Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel Mittelbayerische Zeitung (Regensburg) zu Angela Merkel:

Helmut Kohl hat die heraufziehende Tragödie,
den „anschwellenden Bocksgesang“ (Botho Strauß), seinerzeit nicht
wahrnehmen wollen. Der 16 Jahre lang amtierende Kanzler übersah in
seinen letzten Dienstjahren die Zeichen der Veränderung. Von allen
Seiten kroch die Unruhe hervor, aus den eigenen Reihen bis hinauf zu
Wolfgang Schäuble, aus der Wählerschaft, selbst bei den Treuesten.
Dann kam Gerhard Schröder und fegte den Alten 1998 mit der Fanfare
seiner Hannoveraner Freunde von den „Scorpions“ hinweg: „Wind of
Change.“ Kohls Abgang wurde am Ende wirklich tragisch. Angela Merkel
– das Kanzlerdienstjahr Nummer zwölf hinter und vier weitere nach
eigener Planung vor sich – droht es ganz ähnlich zu gehen. Anders
kann man folgenden Fakt nicht interpretieren: Drei Monate nach einer
Wahl, bei der ihre Partei voll auf sie gesetzt hat und damit 8,6
Prozentpunkte verlor, sagen 47 Prozent der Wähler, dass es gut wäre,
wenn sie vorzeitig aufhören würde. Weitere Anzeichen: Der junge
CDU-Nachwuchs, angeführt von Jens Spahn und Daniel Günther,
unterminiert Merkels Autorität praktisch mit jedem Interview. Nicht
zu reden von der CSU. Und die FDP versucht auf dieser Welle
mitzureiten. Ja, ohne Merkel, da wäre was gegangen bei Jamaika, da
wird auch künftig was gehen. So aber nicht, sagt Christian Lindner.
Es ist zwar eine höchst billige Ablenkung von der eigenen
destruktiven Rolle seit der Wahl, doch das eigentlich Überraschende –
und für Merkel Beunruhigende – ist, dass sie funktioniert. Gegen
Merkel traut sich jetzt fast jeder. Wer will noch mal, wer hat noch
nicht. Die Kanzlerin hat den Zeitpunkt verpasst, wo sie aus einer
Position höchsten Ansehens und höchster Autorität heraus ihre
Nachfolge hätte regeln und sich selbst einen politisch attraktiven
Lebensabend hätte gestalten können. Vielleicht mit einem Job bei der
UNO. Längst ist sie in dem Stadium, sich über die Zeit retten zu
müssen, irgendwie. Das ist auch der Hauptgrund, warum sie eine
Minderheitsregierung so konsequent ablehnt. Sie hat Angst, dann
komplett demontiert zu werden. Die Schwäche der noch amtierenden
Kanzlerin ist offensichtlich. Fragte man sie vor der Wahl noch, ob
sie denn wirklich weitere volle vier Jahre amtieren wolle, um sie so
quasi zu einem Treuebekenntnis zu dieser Aufgabe zu zwingen (das sie
abgab), so wird diese Frage jetzt mit einem eingefügten „etwa“
formuliert und bezweckt das Gegenteil. Jetzt wäre man froh, Angela
Merkel würde sagen: Auch ich merke, dass es Zeit ist. Das sagt sie
aber bisher nicht. Die komplizierte Regierungsbildung gibt der
Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden nun freilich unverhofft eine Chance,
doch noch aus dem Dilemma heil herauszukommen. Und sie sollte sie
nutzen. Falls es Neuwahlen gibt, muss sie nicht wieder antreten, und
wenn sie es dennoch will, so hat sie dann eine neue Möglichkeit, den
Wählern klar zu machen, wie sie den Übergang gestalten will. Das
Gleiche gilt für den Fall einer großen Koalition mit der SPD. Zwar
gibt es den Grundsatz, dass sich die beteiligten Partner ihr Personal
selbst aussuchen, erst recht die Kanzlerpartei sich ihre Kanzlerin.
Wenn diese Kanzlerin aber mitsamt ihrer ganzen Richtlinienkompetenz
so angeschlagen ist, darf auch der kleinere Partner den größeren mit
Fug und Recht fragen: Wie lange noch?

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