Trierischer Volksfreund: Armutsbericht – Leitartikel, Trierischer Volksfreund 07.03.2013

Arm im Sinne von menschenunwürdigem Leben ist
hierzulande auch dank der Grundsicherung tatsächlich kaum jemand. Das
ist nicht das Hauptproblem. Ein Problem ist aber, wenn man wegen
steigender Mieten nicht mehr weiter weiß. Ein Problem ist, wenn
arbeitet und trotzdem zum Sozialamt muss. Ein Problem ist, wenn man
keine Chance bekommt, weil man zu alt ist, behindert oder Ausländer.
Armut ist in Deutschland für viele Menschen die Erfahrung mangelnder
Teilhabemöglichkeit inmitten einer Gesellschaft, die objektiv reich
ist und immer reicher wird. Deutschland ist zwar „cool“, im Sinne von
erfolgreich, wie Wirtschaftsminister Philipp Rösler sagt. Aber es ist
auch kalt.

Die Opposition verweist auf die Vermögenskluft zwischen Arm und
Reich, auf Niedriglöhne und die anhaltend hohe Zahl von Menschen, die
staatliche Stütze benötigen. Sie verlangt mehr
Verteilungsgerechtigkeit. Die Regierung hält die
Leistungsgerechtigkeit dagegen, die Tatsache, dass so viele Bürger
wie nie in Arbeit sind, und dass das Land zukunftsfester ist als
viele andere Länder. Beide Ansichten finden Zahlenfutter in dem
gestern vom Kabinett beschlossenen „Armuts- und Reichtumsbericht“.
Aber beide erfassen jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit in
Deutschland.

Die Chancengerechtigkeit ist das große, unterschätzte Thema dieses
Landes. Die OECD bemängelt es immer wieder: Kaum irgendwo ist der
Bildungserfolg so vom Status der Eltern abhängig wie hier. Das ist
ein wahres Armutszeugnis, ebenso wie die hohe Zahl der Schulabgänger
ohne Abschluss. Oder, dass sich die Chancen (und Einkommen) von
Frauen und Männern so sehr unterscheiden. Es ist die Durchlässigkeit
der Gesellschaft, die ins Stocken geraten ist. Die, die oben sind,
können immer öfter schon das Geld für sich arbeiten lassen. Ihre
Kinder starten sorgenfrei ins Leben. Die Mittelschicht trägt derweil
den Staat und wird immer frustrierter, weil es nicht voran geht. Und
die, die unten sind, bleiben unten, mit Tendenz zum Prekariat.

Um Chancengerechtigkeit herzustellen, braucht man beides. Mehr
Verteilungsgerechtigkeit durch eine höhere Besteuerung von Vermögen
und Erbschaften, vor allem für die Bildung. Aber auch einen starken
Industriestandort und die Fortsetzung der Politik des Forderns und
Förderns. Es würde sehr helfen, wenn die Politik die Schützengräben
der Statistiken verlassen und sich in die Wirklichkeit begeben würde.
Die Gesellschaft muss ihre Balance halten. Immer. Wenigstens dieses
Ziel sollte allen gemeinsam sein.

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Trierischer Volksfreund
Thomas Zeller
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