BERLINER MORGENPOST: Zwischen historisch und hysterisch – Leitartikel

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber
sie machen sie nicht aus freien Stücken“, stellte mal einer fest, der
weder den historischen Niederschlag seiner Ideen durchleiden musste
noch ihren geschichtlichen Zusammenbruch. Trotzdem wusste Karl Marx
offensichtlich, dass man politische Persönlichkeiten nicht
überschätzen sollte. Und dass all denen, die sich in die Umstände
fügen und die Zeichen der Zeit beherzt umarmen, ein gewisses Maß an
Verständnis entgegenzubringen ist. Angela Merkel, Guido Westerwelle
und Christian Lindner sollten sich über so viel Mitgefühl von
philosophischer Seite freuen. Denn ihr sportlicher Sprung auf das
grüne Trittbrett des Anti-Atom-Expresses kann nur als historisch
bezeichnet werden – wobei zwischen historisch und hysterisch auch
orthografisch bloß eine feine Linie verläuft. Warum aber ist keiner
so recht glücklich über diese historische Wende? Nicht nur
BDI-Präsident Keitel hadert mit seiner Kanzlerin. Auch der eine oder
andere grün-bürgerlich sozialisierte Atomkraftgegner wird ein
bisschen enttäuscht sein. Was hat man sich nicht über Jahrzehnte
abgemüht, die eigenen Argumente im Glaubenskrieg um die Kernenergie
gegen die naturwissenschaftlich und wirtschaftlich gestählte Front
gewichtiger Vernunftmenschen zu wappnen. Um auf diesem von beiden
Seiten hochstilisierten Diskursschlachtfeld zu bestehen und nicht
einfach in der Ecke der Strickpulli tragenden Angst-Ökos hocken zu
bleiben. Man hat sich mit Effizienzüberlegungen und
Restrisiko-Arithmetiken beschäftigt, den Wachstumsmotor
„Nachhaltigkeit“ für die deutsche Wirtschaft entdeckt, ja sogar
Überbrückungsszenarien von mehreren Jahrzehnten akzeptiert. Und das
fand man irgendwie auch nicht nur ritterlich, sondern der Sache
dienlich. Denn dass in Deutschland die Lichter ausgehen, war (von den
meisten) ja auch nicht gewollt. Und schließlich konnte man ja
irgendwie immer davon ausgehen, dass es der anderen Seite ebenfalls
nur um die Sache geht, die sie ebenfalls sehr ernst nimmt, zum Wohle
aller. Also haben die meisten redlich gekämpft, anstatt einfach zu
sagen: Liebe Leute, wir haben irgendwie echt Angst vor den Dingern
und dem ganzen strahlenden Müll – also schaltet sie ab! Das sagt nun
ausgerechnet FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Und fegt den
ganzen Argumentekatalog einfach vom Tisch, den viele Menschen den
Verantwortlichen wirklich – und teilweise auch zu Recht – geglaubt
hatten. Fragt sich nur: Wer glaubt ihm und Frau Merkel morgen noch,
wenn sie uns erklären, dass man auf gar keinen Fall einen Mindestlohn
einführen darf? Oder dass man nicht aus der Nato austreten kann? Oder
dass man unbedingt den Euro stützen muss, weil sonst Europa im Meer
versinkt? „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“,
sagt Voltaire, die Stimme der Vernunft, und wahrscheinlich hat auch
er recht. Trotzdem sollten sich die Berliner Parteizentralen in
Zukunft sehr genau überlegen, ob sie alle Themen wirklich zur
Kreuzzugssache erheben und den politischen Gegenredner immer zum
Ketzer stempeln müssen. Die Umstände – wie die Katastrophe von
Fukushima – könnten allzu leicht dazu führen, dass sie ihre eigenen
Argumente im Nachhinein tatsächlich zur Lüge stempeln müssen. Denn es
ist genau diese Art, Politik zu machen, die die notwendige Hygiene
der politischen Auseinandersetzung verseucht, auf der eine Demokratie
beruht.

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