Landeszeitung Lüneburg: Koalition der Willigen für das Klima / SPD-Umweltpolitiker Dr. Matthias Miersch plädiert nach Scheitern von Rio+20 für Öko-Allianzen mit Schwellenländern

War Rio+20 ein weiterer Schritt Richtung Abgrund?

Dr. Matthias Miersch: Nein, kein Schritt Richtung Abgrund, aber es
war auch kein Fortschritt. Es war eine Bilanz, wo wir stehen, 20
Jahre nach dem großen Weltgipfel – aber mehr auch nicht.

Vor 20 Jahren erkannte die Menschheit in Rio, dass sie in einem
Treibhaus sitzt, das vom Menschen angeheizt wird. Heute stößt die
Menschheit so viel Klimakiller in die Atmosphäre wie noch nie. Ist
die Lernkurve des Menschen zu flach?

Dr. Miersch: Da möchte ich differenzieren. Zum einen zwischen den
Regierungen dieser Welt, die in Finanzkrisen und Wahlkämpfen gefangen
sind – ein Beispiel sind die USA mit der bevorstehenden
Präsidentschaftswahl – und der Zivilgesellschaft. Ich glaube, dass es
weltweit sehr viel Dynamik gibt bei der Frage, wie wollen wir künftig
auf diesem Planeten leben. Insofern trägt 20 Jahre nach Rio das Motto
„global denken, lokal handeln“ durchaus Früchte, allerdings nicht bei
den Regierungen dieser Welt.

Gilt bei internationalen Konferenzen die Regel: Je mehr
Teilnehmer, desto weniger Ertrag?

Dr. Miersch: Das mag so sein. Die Vereinten Nationen mit ihrem
Konsensprinzip sind derzeit nicht in der Lage, wirkliche Fortschritte
in rechtlich verbindlicher Form abzuschließen. Aber derartige
Mammutkonferenzen bieten eine unverzichtbare Plattform für Vertreter
der Zivilgesellschaft, aber auch für Parlamentarier, sich zu treffen
und auszutauschen. Das gibt es sonst nirgends.

Wenn das Konsensprinzip nicht mehr zielführend ist, müssen dann
auch im Klimaschutz „Koalitionen der Willigen“ vorangehen?

Dr. Miersch: Genau das ist der Weg, nicht nur im Klimaschutz,
sondern auch im Bereich Nachhaltigkeit. Wenn es darum geht, soziale
Gerechtigkeit, ökonomische Vernunft und ökologisches Bewusstsein
zusammenzuführen, brauchen wir Allianzen zwischen der Europäischen
Union und Staaten wie Brasilien, Südafrika und Indonesien. In diesen
Staaten tut sich extrem viel, deshalb müssen wir mehr auf sie zugehen
als in der Vergangenheit.

Muss man angesichts des Auftritts von Brasilien als
Gipfel-Gastgeber nicht die Hoffnung begraben, dass Schwellenländer
eine tragende Rolle im Klimaschutz übernehmen würden?

Dr. Miersch: Nein, das glaube ich nicht. Brasilien hatte ein
großes Interesse daran, die Rio-Nachfolgekonferenz auszurichten, litt
dabei aber an einem Kopenhagen-Syndrom – also der Angst vor einem
erneuten Scheitern. Deshalb wollten sie auf jeden Fall ein Ergebnis
produzieren, egal, was in dem Kommunique steht. Insofern kam es
erstmals zu der Konstellation, dass bereits vor dem
High-Level-Segment, vor dem Eintreffen der Staatschefs, das Ergebnis
bereits feststand. Anderenfalls hätte die brasilianische
Verhandlungsführung die Daumenschrauben noch mehr angezogen. Trotz
des unbefriedigenden Gipfelergebnisses glaube ich aber, dass sich in
Brasilien sehr viel in Richtung Klimaschutz bewegt.
Gesellschaftspolitisch geschieht viel, weil eine starke Mittelschicht
heranwächst, die Träger des Umweltschutzgedankens sind. Aber auch
ökonomisch ist Brasilien auf dem Sprung, präsentiert stolze
Wachstumsraten in Serie. Jetzt geht es darum, Ökonomie und Ökologie
zu verknüpfen. Da gibt es Fehlentwicklungen: Brasilien baut gerade
seinen dritten Atomreaktor – Angra III – mit deutschen
Hermesbürgschaften in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, was aus meiner
Sicht ein Skandal ist. Unter brasilianischen Parlamentariern wächst
aber die Einsicht, dass dies der falsche Weg ist. Alternativen wie
die Nutzung von Wasserkraft werden ebenso diskutiert wie ein besserer
Schutz des Regenwaldes.

Gerade Schwellenländer wie Brasilien, Indien und China sehen aber
die Frage, wie sie künftig Energie erzeugen, auch als Machtpolitik.
Welche Angebote können Ländern gemacht werden, denen die Aussicht,
die Welt zu retten, nicht reicht?

Dr. Miersch: Eine sehr komplexe Frage: Zum einen hat Peking auf
der Rio+20-Konferenz ein wichtiges Hoffnungszeichen gesetzt.
Regierungschef Wen Jiabao kam persönlich nach Rio, während unsere
Bundeskanzlerin geschwänzt hat. Er hat eine beeindruckende Rede
gehalten. Normalerweise ziemt es sich nicht, in den UN-Prozessen
Applaus zu spenden. Wen Jiabao hat ihn trotzdem bekommen, weil er den
Entwicklungsländern mit auf den Weg gegeben hat, China sei auch ein
sich entwickelndes Land, wisse, welche Unterstützung
Entwicklungsländer bräuchten – und würde diese Hilfe gewähren. Neben
diesem Vertrauenssignal sprach er als chinesischer Regierungschef von
der Zivilgesellschaft, die wichtig sei für den Klimaschutz. Das
impliziert eine Öffnung Chinas. Jetzt kommt es darauf an, was wir als
stark entwickelte Länder tun. Hier müssen wir konzedieren, dass der
Begriff „green economy“, der Rio prägte, von sehr vielen Staaten
skeptisch gesehen wird, weil Protektionismus befürchtet wird.
Schwellen- und Entwicklungsländer gestehen zu, dass sie eine grüne
Wirtschaft mit den Technologien des Westens aufbauen könnten, lehnen
aber die daraus zwangsläufig erwachsende neue Abhängigkeit vom Westen
ab. So betonte die Delegation aus Botswana, dass das Land seine
riesigen Kohlevorkommen fördern müsse, weil Solar-Paneels schlicht zu
teuer sind. Hier muss der Westen tatsächlich helfend eingreifen,
indem er technologisches know-how transferiert.

In Rio wurde vereinbart, dass bis 2015 globale
Nachhaltigkeitsziele vereinbart werden. Gibt es nicht schon genug
Ziele, aber zuwenig Etappensiege?

Dr. Miersch: Klar, wir brauchen mehr Etappensiege. Aber das Thema
nachhaltige Entwicklung wird nur dann das Stadium der Beliebigkeit
verlassen und konkret werden, wenn man sich Ziele setzt und messbare
Indikatoren verabredet. Das hat Deutschland vor zehn Jahren unter der
rot-grünen Regierung mit der Formulierung einer
Nachhaltigkeitsstrategie begonnen. Diese enthält Indikatoren, die
aber bis jetzt in Deutschland zu wenig beachtet werden. Das, was man
2015 erreichen muss, ist eine Verpflichtung der Staaten auf konkrete
Ziele. Ansonsten ist Nachhaltigkeit ein beliebiger Allgemeinplatz,
der von Politikeransprache zu Politikeransprache wöchentlich
vergewaltigt wird.

Verliert Europa seine Vorreiterrolle, wenn die Kanzlerin bei
solchen Gipfeln abwesend ist?

Dr. Miersch: Nein. Zum einen darf man Deutschlands Rolle nicht
überbewerten, auch wenn Deutschland ein wichtiger Spieler in diesem
Prozess bleibt. Wir haben ja etwas zu bieten: Es gibt den
Nachhaltigkeitsrat, in dem die Zivilgesellschaft vertreten ist. Es
gibt den Beirat für nachhaltige Entwicklung im Parlament. Das hätte
man in Rio ebenso prominent darstellen können wie die Energiewende,
den Ausstieg aus der Kern- und die Hinwendung zu erneuerbaren
Energien. So hat Minister Altmaier auf der Rednerliste einen Platz am
Ende zwischen Ruanda und Afghanistan bekommen. Frankreichs
Staatspräsident Fran¢ois Hollande hat dementgegen die Chance genutzt,
darzustellen, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein ökologisches Thema
ist, sondern auch eines der Steuerpolitik, indem er unter großem
Beifall der afrikanischen Staaten für eine Finanztransaktionssteuer
plädierte. Dass Frau Merkel auf diese Chance verzichtete, ist
eigentlich unverzeihlich.

Hätte die Skepsis der Schwellenländer gegenüber Green Economy
vermindert werden können, wenn Deutschland schon konkrete Vorgaben
für diese Transformation der Wirtschaft gesetzt hätte?

Dr. Miersch: Ja, zum einen hätte uns dies mehr Vertrauen
eingebraucht. Zum anderen aber auch, wenn wir unsere Finanzzusagen,
die wir vielen Konferenzen gegeben haben, eingehalten hätten. Das
haben wir wie viele andere Staaten der sogenannten Ersten Welt nicht
getan – und das führt zu Misstrauen. Hier müssen wir unsere
Hausaufgaben nachholen, um international glaubwürdig zu sein.

Würden Alleingänge auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene
mehr Wirkung erzielen als das ewige Warten auf einen
Weltklimavertrag?

Dr. Miersch: Das Eine darf das Andere nicht ersetzen. Die nächste
Klimakonferenz findet Ende des Jahres in Katar statt. Hier darf man
nicht allzuviel erwarten, zumal der Gastgeber kein allzu großes
Interesse an der Abkehr von den fossilen Energieträgern hat. Deshalb
muss international Dynamik in den Klimaschutz getragen werden, indem
man Allianzen zwischen Staaten schmiedet, die Vorreiter sein wollen.
Dabei darf aber niemals die Zivilgesellschaft vergessen werden.
Global denken, lokal handeln ist aktueller denn je. So macht Mut,
dass über 40 der größten Städte der Welt in Rio eine
Abschlusserklärung abgegeben haben, die deutlich konkretere
Klimaschutz-Schritte vorsieht als die wachsweiche Erklärung der
Staaten.

Das Interview führte Joachim Zießler

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