BERLINER MORGENPOST: Nahles rettet Martin Schulz – Leitartikel von Jörg Quoos

Das war knapp. Nur mit allergrößter Mühe konnte der
SPD-Vorsitzende Martin Schulz, vor wenigen Monaten noch gefeierter
„Mister 100-Prozent“, seine Partei am Sonntag hinter sich bringen und
darf jetzt Koalitionsverhandlungen mit der Union beginnen. Schulz hat
sich mit großer Mühe über eine Hürde gerettet.

Es war nicht der Parteichef, der den Bonner Parteitag gestern
überzeugte. Seine Rede war schwach und entzündete die Delegierten an
keiner Stelle. Zu dünn war der Beifall, zu gequält wirkten die Mienen
der meisten Delegierten. Die Gesichter von Amtsvorgänger Sigmar
Gabriel und Schulz– heimlichem Rivalen, Hamburgs Erstem Bürgermeister
Olaf Scholz, drückten nicht Skepsis, sondern Verachtung für den Mann
aus Würselen aus.

Dass der Parteivorsitzende am Ende doch noch knapp die Kurve
bekommen hat, verdankt er besonders der Leidenschaft, mit der sich
Andrea Nahles ins Zeug legte. Ihre Rede hat sicher manchen
Delegierten noch umgestimmt. In der kurzen Ansprache der mächtigen
Fraktionschefin lag mehr Feuer als in der kraftlosen, 58 Minuten
dauernden Rede des Vorsitzenden.

Gestern hat Andrea Nahles– Macht dem Parteichef noch geholfen.
Sollte es aber weiter so schlecht laufen für Martin Schulz, kann
diese Macht für ihn auch gefährlich werden. Es ist ein offenes
Geheimnis, dass viele bei den Sozialdemokraten die erfahrene
Sozialpolitikerin für die bessere Vorsitzende halten.

Für die Wähler ist das Ergebnis des gestrigen SPD-Parteitags keine
schlechte Nachricht. Egal wie uninspirierend man eine Neuauflage des
schwarz-roten Bündnisses auch finden mag: Je schneller Deutschland
wieder eine stabile Regierung bekommen kann, umso besser ist dies.
Auch Neuwahlen, die am Ende wahrscheinlich ein sehr ähnliches
Ergebnis bringen würden, kann niemand wollen. Da ist eine weitere
große Koalition sicher das kleinere Übel.

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