Charité-Virologe Drosten: Es wäre mit 278.000
Corona-Todesopfern zu rechnen
Ruf nach Verbot von Großveranstaltungen – Kassenarztchef Gassen: Virus wird
nicht mehr verschwinden
Osnabrück. Der Chef-Virologe der Berliner Charité hält es für möglich, dass in
Deutschland langfristig eine Viertelmillion Menschen am Coronavirus sterben
werden. Das Virus werde sich erst dann nicht weiter verbreiten, wenn zwei von
drei Menschen zumindest vorübergehend immun seien, weil sie die Infektion schon
hinter sich hätten, sagte Christian Drosten, Direktor des Instituts für
Virologie der Charité, im Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ).
„Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen wären zwei Drittel fast 56
Millionen Menschen, die sich infizieren müssten, um die Ausbreitung zu stoppen.
Bei einer Mortalität von 0,5 Prozent wäre in dem Fall mit 278.000
Corona-Todesopfern zu rechnen“, erklärte Drosten.
Solch eine Berechnung mache allerdings „wenig Sinn“, weil die Zeitkomponente
fehle, erklärte Drosten weiter. „Bei langsamer Verbreitung werden Corona-Opfer
in der normalen Todesrate verschwinden.“ Jedes Jahr stürben in Deutschland
850.000 Menschen. Das Altersprofil sei ähnlich wie bei den Todesfällen durch das
neue Virus. Mit einem für alle verfügbaren Impfstoff gegen das Coronavirus
rechnet Dorsten „nicht vor Sommer nächsten Jahres“.
Auch Kassenarztpräsident Andreas Gassen geht davon aus, dass sich ein Großteil
der Bevölkerung anstecken wird, bevor die Ausbreitung zu einem wirklichen Halt
kommt. „Das mag für den Laien schockierend wirken, ist aber nüchtern betrachtet
nichts Bedrohliches: Es gibt Viren, die praktisch jeden mindestens einmal
befallen. Zum Beispiel Herpes und Influenza“, sagte der Vorstandsvorsitzende der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) der „NOZ“. Man spreche in dem Fall von
einer „Durchseuchung“ der Gesellschaft, die dann letztlich zu einer Art
Herden-Immunität führe.
„Auch das Coronavirus dürfte nicht verschwinden“, sagte Gassen. Die Frage sei,
wie lange die „Durchseuchung“ dauere. „Das kann vier oder fünf Jahre dauern. Je
schneller es geht, je größer ist die Herausforderung für das Gesundheitswesen.
Aber dass wir selbst bei einem weiteren raschen Anstieg der Fälle an Grenzen
stoßen, sehe ich definitiv nicht.“ Derzeit sei Corona „eher eine mediale als
eine medizinisch relevante Infektion“, sagte Gassen.
Virologe Drosten forderte zur Eindämmung des Virus ein Verbot von
Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. „Die Schweizer sagen alle
Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen ab. Eine solche bindende Obergrenze
wäre auch für Deutschland extrem hilfreich“, das würde auch den Veranstaltern
Rechtssicherheit geben, sagte der Forscher. „Volle Stadien mit Zehntausenden von
Fans – gerade in Gegenden wie dem vom Coronavirus jetzt stark betroffenen
Rheinland – müssten aus medizinischer Sicht eigentlich gestoppt werden“, mahnte
Drosten.
Für bundesweite Schulschließungen ist die Zeit aus Sicht des Charité-Experten
noch nicht gekommen: „Die Idee ist gut. Aber das ist eine Maßnahme, die wir der
Gesellschaft nur einmal zumuten können“, so der Virologe. „Wir sollten diese
Karte aufbewahren, damit wir sie im Herbst ziehen können, oder im Juni, wenn uns
das Virus keine –Sommerpause– beschert. Jetzt wäre es wohl noch zu früh.“
Drosten befürchtet, dass eine rasante Ausbreitung in Deutschland nicht mehr
verhindert werden könne. „Wir stoßen an Grenzen. Die Sorge ist berechtigt, dass
wir das Coronavirus nicht in den Griff bekommen und am Beginn einer pandemischen
Welle stehen“, sagte er. Die Lage sei für die Gesundheitsämter mancherorts sehr
schwierig. „Wir bekommen Rückmeldungen, wonach die Mitarbeiter kapitulieren. Sie
sind personell nicht mehr in der Lage, die notwendigen Kontrollen durchzuführen.
Kontaktpersonen werden nicht gleich getestet. Bei Menschen in Quarantäne wird
nicht geprüft, ob sie wirklich zu Hause bleiben. Die Gesundheitsämter kommen
nicht mehr hinterher.“
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