neues deutschland: Kommentar: Jesus Christus ist kein Vorbild für die Politik

Alle Jahre wieder erreicht uns die Nachricht, die
Armut sei abermals schlimmer geworden. Diesmal in der Tafel-Variante,
nach der doppelt so viele Rentner der Nahrungsmittelspenden bedürfen
wie noch vor zehn Jahren. Hinter dieser Nachricht, treffsicher drei
Tage vor Weihnachten platziert, steckt ein unmissverständlicher, doch
leider sehr unüberlegter Appell an die Bundesregierung. Liebe Frau
Merkel, schneid dir eine Scheibe ab von Jesus, sei gütig zu deinen
Schäfchen. Dies ist eine unpolitische Forderung, sie ist gefährlich
und im Kern antidemokratisch. Ein Staat, der vorgibt, aus Güte zu
handeln, ist in Wahrheit ein autoritärer Staat. Nichts garantiert,
dass er nicht im nächsten Moment schon zur gierigen Kleptokratie
mutiert. Wer einen Staat allen Ernstes um Güte bittet, denkt noch
immer wie ein Untertan von Louis XIV. Wer hingegen etwas Zeitgemäßes
gegen Armut unternehmen will, muss für Rechte streiten.
Hartz-IV-Sätze muss man erhöhen. Vielleicht auch ein Grundeinkommen
einführen. Jedenfalls braucht es einklagbare Rechtsansprüche. Nur so
können sich Bürger aus Armut befreien. Wer möchte, soll die Armen an
Heiligabend trotzdem gerne zu sich nach Hause einladen und den
biblischen Laib Brot mit ihnen teilen. Es würde ein unvergessliches
Weihnachtsfest. Es wäre ein Zeichen der Liebe inmitten sozialer
Kälte. Doch sollte man gütige Taten wie diese auf keinen Fall mit
Politik verwechseln.

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