Westdeutsche Zeitung: Die Castor-Auseinandersetzungen sindüberholte Rituale – Hase-und Igel-Spiele im Wendland Ein Kommentar von Martin Vogler

Wahrscheinlich ist der Vergleich moralisch
angreifbar: Die Castor-Auseinandersetzungen erinnern ein wenig an den
köstlichen 90er-Jahre-Film „Und ewig grüßt das Murmeltier“, in dem
ein Wetterfrosch alptraumhaft immer wieder den selben Tag durchlebt.
Bei den Botschaften von der Bahnstrecke nach Gorleben glaubt man
ebenfalls, alles in zwei Jahrzehnten schon mal gehört zu haben.
Demonstranten versuchen den Transport zu stoppen, machen
Sitzblockaden, einige ketten sich an Schienen fest oder graben den
Schotter darunter weg. Die Polizei hingegen versucht, die Strecke zu
räumen, ohne dass es zur Eskalation kommt. Was ihr nicht immer
gelingt. Übertriebene Härte wird ihr deshalb vorgeworfen. Die Beamten
hingegen klagen, auch die Demonstranten würden immer gewalttätiger.

Bei diesen ritualisierten Auseinandersetzungen sind dieses Jahr
nur wenige Aspekte neu. So dauert die Reise so lange wie vorher noch
nie. Was bedeutet, dass auch die Einsatzkosten der Sicherheitskräfte
einen Rekord erreichen werden. Gewachsen ist sicherlich auch die
Sympathie großer Teile der Bevölkerung für den Protest, zumindest so
lange er friedlich bleibt. Denn kein anderes Land in der Welt steht
so unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima wie
Deutschland – selbst japanische Atomkraftgegner reiben sich ob des
rigorosen Ausstiegs hierzulande die Augen. Ganz besonders irritiert
es, dass Industrie und Politik auf die Frage der sicheren Endlagerung
radioaktiver Brennelemente weiterhin keine überzeugende Antwort
haben.

Gerade angesichts solcher Ängste ist es verständlich, wenn Bürger
protestieren und demonstrieren. Wie weit Blockaden und sogar
Gefährdungen von Transporten durch demokratische und gesetzliche
Regeln legitimiert sind, muss je nach Einzelfall entschieden werden.
Tätliche Angriffe auf Polizisten haben mit freier Meinungsäußerung
nichts zu tun. Sie sind schlicht kriminell. Ebenso muss die Frage
erlaubt sein, ob die Einsatzkräfte immer die Verhältnismäßigkeit
wahren.

Unsere Gesellschaft sollte reif genug sein, den Konflikt nicht
mehr ritualisiert mit Hase- und Igel-Spielen im Wendland auszutragen.
Ist der rein verbale Austausch von Argumenten wirklich so altmodisch,
dass man ihn nicht noch mal wagen könnte?

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