Westfalenpost: Gefährliche Spaltung Von Harald Ries

Krieg, wie Claudia Roth meint? Sicher nicht. Aber
die Türkei steckt in einer dramatischen Krise. Von der Entspannung,
auf die man noch Ende vergangener Woche hoffen durfte, ist nichts
übrig. Der rücksichtslose Einsatz gegen das Protestlager im Gezi-Park
hat die Konfrontation auf eine neue, gefährliche Stufe gehoben. Weiß
die Regierung, was sie riskiert? Gar so lange liegen
bürgerkriegsähnliche Zusände und eine Serie von Militärputschen noch
nicht zurück.

Vermutlich vertritt Erdogan die Mehrheit der Volkes: konservativ,
religiös, patriarchalisch orientiert. Vermutlich sind die gebildeten,
westlich orientierten Städter, die jetzt auf die Straße gehen, in der
Minderheit. Das wäre kein Drama, so lange jede Gruppe nach ihren
Vorstellungen leben kann. Doch dieses Recht sieht die Opposition
bedroht – von schleichender Islamisierung und autokratischen
Tendenzen. Wer friedlichen Protest als Terrorismus bezeichnet und von
ausländischer Verschwörung faselt, offenbart den Verlust der
Maßstäbe, erweist sich als dialog- und damit demokratieunfähig.

Wenn Erdogan den Konflikt weiter anheizt, gefährdet er auch die
wirtschaftliche Zukunft seines Landes. Die Türkei braucht die jungen
Intellektuellen. Die werden sich von Polizeigewalt nicht dauerhaft
einschüchtern lassen. Dazu war der Modernitätsschub während Erdogans
Regierungszeit zu groß.

Dahinter kommt der Ministerpräsident nicht mehr zurück. Das
scheint er nicht wahrhaben zu wollen und treibt die türkische
Gesellschaft in eine fatale Spaltung. Passen also Islam und
Demokratie einfach nicht zusammen? Die Türkei war auf dem Weg, dieses
Vorurteil zu widerlegen und zum Vorbild für die muslimische Welt zu
werden. Erdogan bestätigt nun die primitive Weltsicht der
Islam-Gegner.

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