Landeszeitung Lüneburg: Strauß hätte AfD nicht gewählt Der Politologe Prof. Heinrich Oberreuter bezweifelt, dass ein Rechtsruck für die CSU Sinn machen würde

Von Joachim Zießler

Forsa sieht die CSU derzeit nur noch bei 36 Prozent. SPD und CDU
leiden schon seit Jahren unter einem Zerbröseln ihrer Wählerbasis.
Erwischt es nun auch die Volkspartei CSU? Prof. Heinrich Oberreuter:
Analysiert man die Wahlergebnisse der CSU, befindet sich die Partei
seit Jahrzehnten in einem gewissen Abwärtstrend. Der wurde nur
deshalb nicht so aufdringlich fühlbar, weil die Höhen, von denen die
CSU herabsteigt, so exorbitant waren – denkt man etwa an die 62,1
Prozent, die Alfons Goppel 1974 einfuhr. Aber der gesellschaftliche
Trend hin zu einer Individualisierung geht auch an Bayern nicht
vorbei, so dass ihn nun auch die CSU zu spüren bekommt. Derzeit
zeichnet sich ab, mit welchen Ergebnissen die CSU sich anfreunden
muss. Sie wird um die 40-Prozent-Marke kämpfen, die CDU um die
30-Prozent- und die SPD um die 20-Prozent-Marke. Was die CSU noch
nicht realisiert hat, ist wie sehr sie immer noch privilegiert ist am
Wählermarkt.

Ist die CSU, die die Alleinregierung in der DNA hat, auf die neuen
Zeiten vorbereitet? Prof. Oberreuter: Sie ist innerlich überhaupt
nicht auf eine Phase vorbereitet, in der sie koalieren muss. Es geht
der CSU dabei wie den anderen Volksparteien, die die
gesellschaftlichen Veränderungen nach Kräften verdrängen und immer
noch von Kernmilieus träumen, die längst erodieren. Das Erwachen für
die CSU wird härter, weil sie vom heimlichen Opium naschte, die
Vertretung eines Bundeslandes in der Bundespolitik zu sein. Sie
gewann diese besondere Position, weil sie in Bayern stark ist, und
sie war hier auch stark, weil sie im Bund vernehmbar war. Insofern
schwächt der Verlust der Dominanz die CSU im Land wie im Bund.

Erwischt das Jamaika-Experiment die CSU zur Unzeit? Sich ein
rechteres Profil zu geben, während man mit den Grünen regiert, dürfte
die Quadratur des Kreises werden. Prof. Oberreuter: Die Rationalität,
nach einem rechteren Profil zu streben, erschließt sich mir ohnehin
nicht. Was soll das heißen, die rechte Flanke zu schließen? Die CSU
ist in Sachen Ökologie, aber auch bei ihren gesellschaftspolitischen
Vorstellungen längst auf einem Weg der Modernisierung. Das erste
Umweltministerium Deutschlands hatte der Freistaat Bayern geschaffen.
Die konservativen gesellschaftspolitischen Vorstellungen der CSU
repräsentieren längst nicht mehr die reine Lehre. So heißt es seit
Alois Glück etwa, dass Ehe und Familie zu fördern seien, dass aber
auch alle anderen Lebensgemeinschaften akzeptiert würden, in denen
Menschen Verantwortung füreinander tragen. Wenn ich zudem an ihre
Europapolitik denke, an ihren gemäßigten Patriotismus, an ihre
Sozial- und Wirtschaftspolitik und die Positionen zur inneren
Sicherheit, weiß ich nicht, was an der CSU konservativer werden soll.
Selbst bei der Energiepolitik geht es weniger um die bloße Ablehnung
grüner Posititionen als um den Versuch, diese auf schonende Weise zu
erreichen.

Bayern war einst Vorreiter beim Umweltschutz. Nun präsentiert sich
Alexander Dobrindt als Retter der Braunkohle. Opfert die CSU das
falsche Lamm auf dem Wahl-Altar? Prof. Oberreuter: Der Konflikt
zwischen Grün und Tiefschwarz ist vermutlich derjenige, der das
Koalitionsprojekt am ehesten bedrohen kann. Alle anderen haben nicht
so festgefahrene Positionen. Umstritten sind vor allem Energie- und
Flüchtlingspolitik. Bei den Sondierungsgesprächen scheint Dobrindt
derjenige zu sein, der vermutlich aus taktischen Gründen die
profiliertesten Skepsis-Positionen bezieht. Das dient vor allem dazu,
angesichts der komplizierten Lage der CSU vorzeigbarere Ergebnisse
mit nach München zu bringen. Man kann nicht jede Äußerung zum
Nennwert nehmen, manches ist pure Taktik.

Einen Kontrollverlust vermag die CSU zwar in der Flüchtlingskrise
erkennen, nicht aber beim Steuerbetrug Begüterter angesichts eines
fast waffenlosen Fiskus. Wäre das nicht ein Thema für die
Ordnungspartei CSU und den Finanzminister Söder? Prof. Oberreuter:
Sicherlich, aber das wäre ein Thema für jede Partei. Unsere
Rechtsordnung muss für alle gelten. Wirtschaftsförderung sollte sich
andere Kanäle suchen als den des quasi tolerierten Steuerbetrugs.
Aber eine gewisse Affinität zur Großindustrie lässt die CSU da
möglicherweise einen Schritt zu spät – aber letztlich doch – sensibel
werden. Aber tatsächlich ist dies genau so ein Thema, bei dem man
Popularität verliert. Denn nichts bringt Menschen mehr auf als
Privilegierungen, die auf Status und Macht beruhen. Das schadet der
Legitimität des politischen Systems.

Wie hätte Franz Josef Strauß auf die Herausforderung durch die AfD
reagiert? Prof. Oberreuter: Ich bezweifle, ob er sie gewählt hätte,
wie die AfD im Wahlkampf plakatiert hatte. Die Frage ist schwer zu
beantworten, weil die Personen und ihre Merksätze, wie etwa rechts
von der Union dürfe kein Platz für eine demokratisch legitimierte
Partei sein, ihre Zeit hatten. Und schon damals galten sie nicht
uneingeschränkt, denn die CSU konnte weder den Aufstieg der NPD noch
den der Republikaner verhindern – allerdings deren Ende
beschleunigen. Ich denke, Strauß hätte mit der AfD eine intensive
argumentative Auseinandersetzung gesucht, statt eine emotionale,
abwertende Kampagne zu führen, wie wir sie erlebt haben. Dies wäre
Strauß leichter gefallen, weil er sich ohnehin nie auf eine political
correctness eingelassen hätte.

Kann eine Verdrängung wie bei den Republikanern gelingen, ohne
dass die CSU sich die Tabubrüche der AfD zu eigen macht? Prof.
Oberreuter: Das kann nicht passieren, weil die Anhängerschaft der CSU
an einem solchen Kurs zerbrechen würde. So hat die CSU schon jetzt
erhebliche Schwierigkeiten mit einem erheblichen Teil ihrer
katholischen Anhängerschaft. Die scharfe Anti-Position in der
Flüchtlingsfrage wurde von diesem Milieu, das von Kardinal Marx bis
zu Alois Glück reicht, nie geteilt. Wobei die CSU ihre Politik
unerklärlicherweise schlecht verkaufte. Ein Kontrollverlust 2015 ist
ebenso wenig wegzudiskutieren, wie festzuhalten ist, dass Bayern am
meisten geleistet hat, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen.
Administrativ hätte dies kein anderes Bundesland stemmen können.
Zudem stellte Bayern 500 Millionen Euro für Unterkünfte und
Integrationsschritte an den Schulen bereit und initiierte das
Asylpaket 1 und 2. Sinnvoller als ständig auf einer technischen
Obergrenze herumzureiten, wäre gewesen, die eigene Rolle bei der
Rückgewinnung der Kontrolle zu betonen. 

Drei von zehn Bezirksverbänden haben sich gegen Seehofer gestellt.
Hat er das Heft des Handelns noch in der Hand? Prof. Oberreuter: Ich
warne davor, die Darstellung des Machtkampfes durch die Medien für
die reale Situation zu halten. Derzeit sind CSU-Schwergewichte, die
nicht zu den Anhängern von Markus Söder zählen, wegen der
Jamaika-Sondierungen auf Tauchstation. Die werden vielleicht schon am
Wochenende wieder auftauchen. Ilse Aigner hat mit ihrer Kritik an dem
„katastrophalen Bild“ der Partei bereits die erste Gegenposition
bezogen. An der Basis scheinen weder Söder noch Seehofer eine klare
Mehrheit hinter sich bringen zu können. Vermutlich ist es ohnehin
wurscht, wer im September 2018 die Liste anführt. Das Wahlergebnis
wird so oder so überschaubar sein. Ich würde auch nicht ausschließen,
dass Horst Seehofer mit einem guten Jamaika-Ergebnis im Rücken mit
den Kritikern erfolgreich abrechnet, die sich durch Querschüsse
hervortaten.

Würde eine Trennung von Parteivorsitz und Ministerpräsidentenamt
den bayerischen Knoten durchschlagen? Prof. Oberreuter: Solche
Konstellationen haben noch nie eine Partei langfristig befriedet. In
unserem parlamentarischen System ist der Regierungschef stärker, der
seine Partei selbst anführt. Die Erfahrungen der CSU mit dieser
Ämtertrennung – bei Strauß und Goppel, Waigel und Stoiber, Beckstein
und Huber – sind schlecht. Nicht anders sieht es bei der SPD aus.

Würde Söder sich ins Berliner Kabinett abschieben lassen? Prof.
Oberreuter: Nein.

Im Wahlrevier der CSU gehen auch AfD, Unabhängige und FDP auf die
Pirsch. Kann die CSU bei der Landtagswahl noch die absolute Mehrheit
der Mandate erringen? Prof. Oberreuter: Das bayerische Jagdrevier hat
schon eine besondere Charakteristik. Selbst die freien Wähler können
derzeit in den Umfragen ihre sechs bis acht Prozent halten. Offenbar
gibt es strukturelle Entwicklungen, die die Integrationskraft der
klassischen Volksparteien erschöpfen. Zugleich erschöpft sich in der
Gesellschaft die Bereitschaft, eigene Positionen zurückzustellen,
weil man sich in der großen Volkspartei dennoch heimisch fühlt.
Stattdessen wollen die Bürger ihre Meinungen und Interessen in
Reinkultur vertreten sehen. Angesichts dieses Trends würde ich mich
nicht wundern, wenn die CSU die Mehrheit der Mandate verlöre und
nicht weiterhin allein regieren könnte.

Zur Person

Prof. Heinrich Oberreuter (75) ist Direktor des Institutes für
Journalistenausbildung in Passau. Zuvor lehrte der
Politikwissenschaftler an der Uni Passau. 18 Jahre lang leitete er
die Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Als langjähriges
Mitglied der CSU wurde er zwei Mal zum Vorsitzenden der
Diätenkommission des Bayerischen Landtags gewählt.

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