Nun ja. Man muss nicht gleich in die oberste
Schublade greifen wie Anton Hofreiter. Der Fraktionschef im Bundestag
erklärte mit angekratzter Stimme die Grünen zur einzigen
handlungsfähigen, progressiven Partei, die es in Deutschland gebe.
Doch aus Hofreiters grünem Eigenlob spricht zweierlei: Erstens die
abgrundtiefe Enttäuschung, dass das Polit-Experiment Jamaika so
schmählich scheiterte. Aber zweitens auch neues Selbstbewusstsein der
Ökopartei. Die Grünen waren die einzigen im zerstrittenen
Jamaika-Quartett, die penetrant das Überlebensthema Klima und
Energiewende gepuscht haben. Sollte es nun zu einer großen Koalition
kommen, fehlt dieser grüne Klima-Stachel in der Bundesregierung. Und
das ist schade. Denn Union und Sozialdemokraten sind in der Umwelt-
und Klimapolitik eher Verwalter des Status quo, eher handzahme Tiger
ohne Biss. Einer erneuten Groko dürfte das Erreichen der, einst von
einer Bundesregierung aufgestellten, Klimaziele bis zum Jahr 2020
nicht so wichtig sein wie der Erhalt von Arbeitsplätzen in der Kohle-
und Energiewirtschaft. Oder, um es mit dem renommierten Klimaforscher
Hans Joachim Schellnhuber zu sagen, die nächste Groko wird vermutlich
keinem wehtun wollen, aber später allen wehtun müssen. Entschlossene
Schritte zur Reduzierung von Treibhausgasen samt einer sozialen
Flankierung des Strukturwandels in den Braunkohlerevieren dürfte
Schwarz-Rot eher nicht unternehmen. Höchstens Trippelschritte, wie
derzeit schon. Die Grünen dagegen fallen, nach Lage der Dinge, als
Beschleuniger des Strukturwandels in einer Regierung aus. Zwar hat
die Bundesdelegiertenkonferenz am Wochenende zumindest die Türen für
Gespräche über eine mögliche schwarz-grüne Minderheitsregierung offen
gelassen, doch das war eher das Zeichen an die Union, dass man für
diesen, inzwischen recht unwahrscheinlichen Fall, bereitstehen würde.
Und, man mag es kaum glauben, Angela Merkel wurde von den Grünen
sogar gelobt. Wer im Vorfeld der fünfwöchigen Jamaika-Sondierung
gedacht hatte, es würde fortwährend zwischen Grünen und CSU krachen,
der reibt sich nun verwundert die Augen. Union und Grüne sind sich,
was praktische politische Schritte betrifft, erstaunlich näher
gekommen. Ohne dass freilich unterschiedliche Haltungen in
Grundfragen über Bord geworfen wurden. Von beiden Seiten nicht. Diese
eher pragmatische Annäherung entstand erstens aus Verantwortung für
das Land, zweitens aus dem Willen zum Kompromiss und drittens aus
Vertrauen in die Partner auf der anderen Seite. In endlosen Tages-
und Nachtsitzungen hat sich eine Basis entwickelt. Im Fall der FDP
von Christian Lindner fehlten diese Voraussetzungen. Die
Delegiertenkonferenz räumte mit noch einem weiteren landläufigen
Vorurteil gegen die Grünen auf: Die Flügel der Partei, die sich in
den vergangenen Jahren mitunter erbittert und unversöhnlich
gegenüberstanden, schlugen plötzlich im gleichen Takt. Die in
zahlreichen Landesregierungen vertretene Partei ist offenbar
bürgerlicher und staatstragender geworden, als sich das die Gründer
und Gründerinnen vor dreieinhalb Jahrzehnten beim Protest gegen
Kernkraft und Raketenaufrüstung vorstellen konnten. Sinnbild für
diese Entwicklung ist der grüne Oberrealo Winfried Kretschmann. Der
regiert nicht nur seit sechs Jahren das bürgerliche Ländle
Baden-Württemberg, sondern ist auch bei Linken in der grünen Partei
kein rotes Tuch mehr. Die Grünen haben sich, trotz oder gerade wegen
des Scheiterns von Jamaika, für das Mitregieren empfohlen. Vielleicht
in vier Jahren oder doch schon früher. Die Grünen sind zum
Stand-by-Koalitionspartner geworden.
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