HAMBURGER ABENDBLATT: Inlandspresse, Hamburger Abendblatt zur Energiewende

Ein Kommentar von Matthias Iken

Vor elf Tagen erschütterte ein verheerendes Erdbeben Japan – und
die Technikgläubigkeit der ganzen Welt. Mit der Katastrophe in den
Atomreaktoren von Fukushima wächst in Deutschland der politische
Wille, aus der Kernenergie auszusteigen. Mit einer Hitzigkeit, die an
die 70er-Jahre gemahnt und stellenweise an Hysterie grenzt, beharken
sich Atomkraftgegner und die letzten Freunde der Kernspaltung. Viele
gute Gründe sprechen für die Energiewende, aber es ist an der Zeit,
endlich über die Kosten zu sprechen. Die dürften höher ausfallen, als
manchem brennenden Atomkraftgegner lieb ist. Ein rascher Ausstieg bis
2020 würde nach Berechnungen der Gesellschaft für wirtschaftliche
Strukturforschung nicht nur bis zu 230 Milliarden Euro kosten, er
könnte auch dem Standort Deutschland massiv schaden. Die
industriellen Kerne des Landes sind noch immer Großverbraucher von
Strom; wer hier überstürzt den Stecker ziehen will, riskiert ganze
Branchen und Hunderttausende Arbeitsplätze. Viel preiswerter und
einfacher wird die Energiewende aber auch nicht, wenn sie über einen
längeren Zeitraum gestreckt wird. Einiges deutet daraufhin, dass die
größten Verhinderer, Verzögerer und Gegner nicht die großen
Stromversorger sind, sondern die Bürger selbst. In den vergangenen
Monaten gab es kein energiepolitisches Großprojekt, das nicht die Wut
der Deutschen zu spüren bekommen hat. Noch in den Tagen vor Fukushima
opponierte das Land gegen die Einführung von E?10, immerhin ein
Trippelschritt auf dem Weg der Energiewende. Der Bau von Windanlagen
an Land oder auf hoher See stößt auf massiven Widerstand,
Kohlekraftwerke werden radikal abgelehnt. In Norddeutschland
bekämpfen die Bürger Biogasanlagen, im Süden neue Wasserkraft- oder
Pumpspeicherwerke. Und in der Mitte des Landes empören sich viele
über große Stromtrassen, die die Ökoenergie aus dem Norden in den
Süden bringen sollen. Auch wenn der Protest der unmittelbar
Betroffenen verständlich sein mag, er darf keinen Erfolg haben.
Völlig zu Recht hat Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP)
ein Beschleunigungsgesetz für neue Energieleitungen ins Gespräch
gebracht. Die Bürger wiederum müssen bereit sein, mehr für Strom zu
bezahlen und zugleich mehr staatsbürgerliche Verantwortung zeigen.
Mit Wutbürgern ist kein Staat zu machen. Und eine Energiewende schon
gar nicht.

Pressekontakt:
HAMBURGER ABENDBLATT
Ressortleiter Meinung
Dr. Christoph Rind
Telefon: +49 40 347 234 57
Fax: +49 40 347 261 10
christoph.rind@abendblatt.de meinung@abendblatt.de