Was haben die deutsche Wiedervereinigung und der
europäische Einigungsprozess gemein? Sie sichern uns Frieden und
Freiheit. Es sind die Grundlagen dafür, dass jeder den Lebensweg
wählen kann, den er zu gehen wünscht. Mit der nationalen Einheit vor
22 Jahren ist der Kalte Krieg zwischen Ost und West glücklich beendet
worden. Das grenzenlose Europa andererseits sichert dem Kontinent ein
friedliches Zusammenleben, von dem früheren Generationen nicht zu
träumen wagten. Für zu viele Deutsche sind diese Errungenschaften zur
Selbstverständlichkeit geworden. Ein Blick über den nationalen und
europäischen Tellerrand zeigt uns etwas anderes.
Bundespräsident Joachim Gauck hat Recht, wenn er, der Unfreiheit
jahrzehntelang erlebt hat, vor dem Tag der Deutschen Einheit darauf
verweist, dass das geeinte Deutschland wie das sich integrierende
Europa mehr ist als das Versprechen ökonomischen Wohlstands.
Rechtstaatlichkeit und Freiheit stehen für ihn weit über der Sorge,
ob die Menschen genug Geld verdienen und ob Prosperität und
finanzielle Sicherheit gewährt sind. Das mag angesichts einer sich
weiter öffnenden Schere zwischen Best- und Schlechtverdienern und der
Spekulationen (im doppelten Wortsinn) um die europäische
Gemeinschaftswährung für viele wenig überzeugend, gar zynisch
klingen. Es bleibt dennoch richtig. Denn was wäre materieller
Wohlstand, wenn es ihn denn unter diesen Bedingungen überhaupt geben
sollte, ohne Freiheit wert? Auch darüber einmal wieder nach zudenken,
lohnt sich an einem Tag wie dem der Deutschen Einheit.
Dass es Freiheit und Einheit weder zum Nulltarif noch über Nacht
gibt, haben wir in den vergangenen 22 Jahren erfahren. Ohne
Solidarität, die noch immer von manchen bezweifelt wird und deren
angebliche Verweigerung die Linkspartei mit ihren SED- Wurzeln weiter
für sich instrumentalisiert, wäre Deutschland nicht schon wieder so
eng zusammengewachsen, wie das – allen Mängeln zum Trotz – gelungen
ist. Solidarität, mental wie finanziell, hat auch das derzeit so
schwer kriselnde Europa wieder verdient. Wie die Ostdeutschen haben
jetzt auch die Menschen im Süden Europas Integrationshilfen verdient,
um in der erweiterten Gemeinschaft bestehen, ja mithalten zu können.
Diesen Preis für die Freiheit und Einheit Europas zu zahlen ist
ebenso sinnvoll und notwendig wie vor Jahren für die Vereinigung
unseres Landes.
Helmut Kohl, der in diesen Tagen ob seiner Wahl zum Bundeskanzler
vor 30 Jahren gewürdigt wird, hat seine politische Bedeutung eben aus
dieser Erkenntnis gewonnen, dass ein vereintes, solidarisches Europa
mehr zu sein hat als eine reine, von ökonomischen Daten bestimmte
Wirtschaftsunion. Das politische Denken, Europa als Friedenswerk
hatte für ihn Vorrang. Denn nur in einem einigen, Misstrauen
überwindenden Europa sah Kohl die Chance auch für eine
Wiedervereinigung unseres Landes. Deutscher und europäischer
Einigungsprozess stehen deshalb in einer Wechselwirkung. Das sollten
wir auch bedenken, wenn derzeit um die Rettung des Euro und die
Einheit Europas gerungen wird.
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