BERLINER MORGENPOST: Ein Bürgerprotest zur rechten Zeit – Leitartikel

Es reicht. Immer mehr Berliner Eltern platzt der
Kragen, wenn sie von den Zuständen an den Schulen ihrer Kinder hören.
Auf diese „Wut-Stimmung“ reagiert jetzt auch der
Landeselternausschuss. Er bereitet für Ende des Monats große
Protestdemonstrationen und Aktionen gegen die Schulmisere in der
Hauptstadt vor. Dabei soll aktuell der Personalnotstand in den
Lehrerkollegien angeprangert werden. Doch der steht nur obenan in
einer Schul- und damit Bildungsmisere, die viel zu viele Jugendliche
um ihre Chancen und die Stadt um ein künftig noch dringlicher
benötigtes Wissenspotenzial bringt. Dieser Senat wird nicht müde, den
Vorrang für Bildung herauszustreichen. Das wird mit der stolzen
Meldung verbunden, Berlin rangiere im Ländervergleich nach Hamburg
und Thüringen (je 6000 Euro) mit Ausgaben von 5800 Euro pro Schüler
in der Spitzengruppe bei den Bildungsausgaben. Doch die hohen und
eigentlich lobenswerten Ausgaben zahlen sich nicht aus. In den
bundesweiten Vergleichstests landen Berlins Schüler fast ausnahmslos
auf den unteren Rängen. Es liegt – aller Schönrederei von
Bildungssenator Jürgen Zöllner zum Trotz – zu viel im Argen. Es wird
also höchste Zeit, dass sich Eltern und Schüler nicht länger bieten
lassen, was der Senat und der zuständige Senator glauben, ihnen
zumuten zu können. Viel zu lange ist Berlins verfehlte Schulpolitik
ohne Massenprotest wie etwa jüngst in Hamburg und in früheren Jahren
in Hessen oder Nordrhein-Westfalen erduldet worden. Denn die
Bildungsmisere hat sich langsam, aber immer unheilvoller aufgebaut.
Wenn der Protest auch in Berlin endlich auf die Straße getragen wird,
richtet sich der konkret gegen den Lehrermangel im Allgemeinen, gegen
fehlende Fachlehrer und Unterrichtsausfall im Speziellen. Zöllners
Beschwichtigungsversuch, im Februar würden doch weitere 211 neue
Lehrkräfte eingestellt, zieht nicht. Die „Neuen“ füllen allenfalls
das Loch auf, das die zur Pension gereiften Kollegen der ohnehin
schwer überalterten Berliner Lehrerschaft reißen. 23 Reformen hat die
rot-rote Koalition Lehrern, Schülern und Eltern bislang verordnet.
Aber kaum etwas hat sich verbessert. Der Lehrermangel steht nur ganz
oben auf der langen Mängelliste: schlechte Bezahlung und deshalb
Abwanderung von Lehrkräften, schlecht vorbereitete und
unterfinanzierte Reformen (Jahrgangsübergreifendes Lernen),
katastrophale bauliche Zustände, Gewalt und Intoleranz in Klassen und
auf Schulhöfen, das Losverfahren bei der Wahl der Schule, dazu eine
miserable Schulverwaltung. Ob die neue Sekundarschule ein Erfolg
wird, bleibt abzuwarten. Auch diese Reform ist kaum ausfinanziert.
Der Protest der Eltern ist ebenso überfällig wie klug terminiert. In
Berlin ist Wahljahr. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine
Landesregierung für eine verfehlte Schulpolitik die Quittung bekommt.
Die SPD plant denn auch vorsorglich keine weiteren Reformen. Das
allein wird das Schulniveau allerdings nicht befördern. Besserung
aber ist dringlich geboten, um allen Jugendlichen bessere Chancen und
damit bessere Lebensperspektiven zu geben. Nur eine Minderheit kann
sich eine Privatschule leisten.

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