BERLINER MORGENPOST: Marktinteresse und Menschenrechte
Johnny Erlingüber Merkels schwieriges Treffen mit dem strategischen Partner China

Berlin und Peking stehen vor einer Premiere.
Premier Wen Jiabao und Kanzlerin Angela Merkel konferieren erstmals
gemeinsam im Kreis ihrer Kabinette. Ein starker symbolischer Akt.
Pekinger Beamte versichern, sie hätten noch niemals so viele
Erwartungen in einen Besuch in Deutschland investiert. Schon im
Vorfeld des Gipfels demonstrierte Chinas Regierung, wie viel
Bedeutung sie ihrer Zusammenarbeit mit Deutschland einräumt. Bevor
Wen seine Reise antrat, druckte die „Volkszeitung“ eine lange Bilanz
über „Erfolge und Perspektiven der Beziehungen“. Deutschland sei
Chinas größter Handelspartner in Europa, wichtigster
Technologielieferant und Investor – und inzwischen auch strategischer
Verbündeter. Für die Industrie- und Exportmacht Deutschland sind
solche Avancen natürlich schmeichelhaft, doch in anderen Fragen, der
Haltung Chinas etwa zum Sudan oder Iran, sind die Absichten Pekings
schwerer deutbar – von der kontroversen Menschenrechtsfrage ganz zu
schweigen. Die spektakuläre Entlassung von Ai Weiwei und vier seiner
Mitarbeiter diente ganz offensichtlich bloß dem Ziel, die Empörung
über das Verschwinden des Künstlers vor der Reise Wens zu
entschärfen. Auch die Freilassung des Regimegegners Hu Jia am Sonntag
ist keine Trendwende. Der mit dem EU-Sacharow-Preis ausgezeichnete
Bürgerrechtler hatte seine dreieinhalb Jahre Haft schlicht und
einfach abgesessen. Die Repression bleibt: Weil ihm vom Gericht für
ein weiteres Jahr alle staatsbürgerlichen Rechte aberkannt sind, darf
Hu sich öffentlich nicht politisch äußern. Bei Ai Weiwei und Hu Jia
bleibt der bittere Nachgeschmack, dass beide zwar nicht mehr in Haft,
aber dennoch nicht wirklich frei sind. Ihre Fälle unterstreichen
einen alarmierenden Trend im Rechtswesen Chinas. Wenn es um Fragen
der politischen Stabilität geht, wenn die Partei Gefahr für sich
wittert, werden Richter und Staatsanwälte zu Hilfskräften der
Sicherheitsbehörden, wie der China-Experte Willy Wo-Lap Lam schreibt.
Das erklärt, wie es möglich ist, dass der im Februar 2010 in einem
Willkürurteil zu elf Jahren verurteilte Liu Xiaobo, nun, nachdem er
im Oktober den Friedensnobelpreis bekam, nicht mal mehr von seiner
Familie besucht werden darf. Kein Richter protestierte, als außerdem
seine Frau Liu Xia in Sippenhaft genommen wurde – seit Oktober wird
sie zu Hause festgehalten, isoliert von Öffentlichkeit und Freunden.
Die Begleitmusik zu Wens Staatsbesuch in Deutschland klänge schöner,
wenn Peking in seiner Bilanz zur Frage der Menschenrechte mehr als
nur der Halbsatz einfiele, dass es mit den Deutschen dazu einen
jährlichen „fruchtbaren“ Menschenrechtsdialog gibt. Genau den gibt es
leider nicht. Aber schon im Juli treffen sich die Teilnehmer zur
nächsten Runde. Auf dem heutigen China-Gipfel sollte Kanzlerin Merkel
darauf bestehen, dass Peking im Juli Antworten auf die Fragen nach
den vielen Verschwundenen hat. Es gibt für Deutschland gute Gründe,
gerade mit einem strategischen Partner Fragen der unterschiedlichen
Wertevorstellungen offen zu besprechen. Sonst sind nicht nur
Menschenrechtsdialoge, sondern auch Regierungskonsultationen mehr
Schein als Sein.

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