BERLINER MORGENPOST: Wowereits Kehrtwende im Wahlkampf – Leitartikel

Plötzlich ist es möglich: Mehr Polizisten für mehr
Doppelstreifen auf Berlins U-Bahnhöfen, vermehrte Videoüberwachung
samt längerer Speicherungsfrist, Lautsprecher aus der
Sicherungsleitstelle der BVG, die in Big-Brother-Manier potenzielle
Gewalttäter auf einem Bahnsteig vorm Zuschlagen warnen. Endlich
reagiert der Senat auf die brutalen Überfälle in Berlins U- und
S-Bahnhöfen in den vergangenen Monaten. Das gestern vorgestellte
Sicherheitspaket ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen. Das große
„Aber“ folgt allerdings sogleich. Nachdem der rot-rote Senat über
Jahre die Sorgen und Ängste der Berliner um die Sicherheit im
öffentlichen Raum – zu dem natürlich auch der öffentliche Nahverkehr
gehört – heruntergespielt hatte, teilt er plötzlich die Nöte so
vieler Bürger. Schließlich naht der Wahlkampf. Da geben sich alle
volksnah. Allen voran der Regierende Bürgermeister mit dem
ausgemachten Spürsinn für die Stimmung in der Stadt, wenn es für ihn
persönlich um etwas geht. Und so verkündete Klaus Wowereit denn auch
höchstpersönlich, wie der Innensenator, die BVG-Chefin und der
scheidende Polizeipräsident meinen, U-Bahn-Fahrten in Berlin wieder
zu einer sicheren Sache machen zu können. Exakt einen Tag nach dem
Ergebnis der Morgenpost-Umfrage, nach der sich fast jeder zweite
Fahrgast in U- und S-Bahn unsicher fühlt. Jetzt also die Kehrtwende
gegenüber dem, was für Rot-Rot bislang „Security Correctness“ war:
Wiedereinführung der 2003 abgeschafften Doppelstreifen, statt weniger
Polizisten nun 200 Neueinstellungen, keine Bedenken mehr gegen eine
Verdoppelung der Speicherungsdauer für Videoaufzeichnungen aus den
Bahnhöfen. Dennoch ist der Maßnahmenkatalog eher ein dem Wahlkampf
geschuldeter Schnellschuss als ein wohl überlegtes, schnell
wirkendes, integriertes Sicherheitskonzept. für den öffentlichen
Nahverkehr der Stadt. Die U-Bahn-Polizisten beispielsweise werden
erst ab 2014 voll einsatzbereit sein. Schlimmer noch als das nur vage
Versprechen, wieder mehr Polizisten zum Schutz der Berliner
einzustellen, ist das Versäumnis, die S-Bahn in das neue
Sicherheitskonzept einzubeziehen. Den Berlinern ist es ziemlich
schnuppe, dass die U-Bahn der Stadt und die S-Bahn dem Bund gehören.
Sie erwarten persönliche Sicherheit in den gelben wie den roten
Zügen. Es ist ein schwerer Fehler des Senats, sich allein um die
U-Bahn zu sorgen. Wer Eile vor Gründlichkeit setzt, darf sich über
mangelnde Glaubwürdigkeit nicht wundern. Weitere Verhandlungen mit
den Chefs von S-Bahn und Bundespolizei wären wohl eine ziemliche
Mühsal geworden. Doch die auf sich zu nehmen, müsste für eine
Stadtregierung selbstverständlich sein, die es ernst meint mit der
Sicherheit aller Fahrgäste in der Hauptstadt. Einsicht ist der erste
Weg zur Besserung. Insofern weckt Wowereits schnelles
Sicherheitspaket bescheidene Hoffnungen. Aber was wird daraus, wenn
er nach der Wahl mit den videoscheuen Grünen koaliert? Und sollte er
die Absicht gehabt haben, der CDU die sicherheitspolitischen
Wahlkampfargumente zu entreißen – dann hat er zu wenig in sein Paket
gepackt.

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