Landeszeitung Lüneburg: Kompromisse sind grundlegend – Politikwissenschaftler Uwe Jun sieht einen besorgniserregenden Trend, die eigene Meinung als allein wichtige anzusehen

Volle Kassen, stabile Konjunktur. Politiker
unserer Nachbarstaaten würden sich vermutlich reißen, um in Berlin
regieren zu dürfen. Wieso wird es hierzulande offenbar vor allem als
Bürde gesehen?

Prof. Uwe Jun: Das liegt vor allem daran, dass wir derzeit
deutlich unübersichtlichere Verhältnisse im Parteiensystem haben, als
wir es in Deutschland gewohnt sind. In der Folge sind Bündnisse
schwerer zu realisieren, beziehungsweise haben diese in der
Vergangenheit dazu geführt, dass einzelne Partner vom Wähler
abgestraft wurden. Konkret heißt dies, dass eine Vierer-Koalition
naturgemäß schwerer zu bewerkstelligen ist, und dass die SPD derzeit
nicht bereit zu sein scheint, erneut in eine große Koalition
einzutreten, nachdem sie daraus zweimal mit schweren Verlusten
hervorgegangen ist. Im Moment allerdings wächst der inner- und
außerparteiliche Druck auf die SPD-Führung.

Ausgerechnet in einer Phase, in der die Demokratie durch
Rechtspopulisten herausgefordert wird, bringen vier demokratische
Parteien nicht genug Kompromissfähigkeit für eine Regierung auf.
Müssen wir uns Sorgen machen?

Prof. Jun: Soweit würde ich nicht gehen. Aber Sie sprechen etwas
Richtiges an: Der Kompromiss ist konstitutiv für das Funktionieren
einer Demokratie, wesentlich für eine Koalitionsdemokratie wie
unsere. Es erscheint mir allerdings deutlich verfrüht, die Demokratie
in Gänze als gefährdet anzusehen, weil derzeit die
Kompromissfähigkeit einzelner handelnder Politiker schwächer
ausgeprägt zu sein scheint. Allerdings ist richtig, dass es einen
Regierungsbildungsauftrag für die Parteien gibt und dass diese ihn
auch wahrzunehmen haben. Wir kennen es auch aus anderen Ländern – in
jüngster Zeit etwa aus den Niederlanden -, dass eine
Regierungsbildung nicht unmittelbar klappen muss, ohne dass dieses
gleich die Demokratie ins Wanken gebracht hätte. Dennoch sind die
Parteien in Berlin jetzt gefordert, in absehbarer Zeit eine
handlungsfähige Regierung zu bilden.

War die Zeit noch nicht reif für Jamaika, weil die FDP gerne noch
länger in der Pose der außerparlamentarischen Opposition verharren
wollte und die CSU von Machtkampf und bevorstehenden Wahlen gelähmt
ist?

Prof. Jun: Das sind in der Tat zwei mögliche Gründe. Zudem fehlte
es an einem gemeinsamen Projekt. Zudem gelang es den vier Parteien
nicht, untereinander ausreichend Vertrauen herzustellen. Das aber ist
nötig, um vier Jahre regieren zu können.  Man hat sich auch während
der Sondierungen aus meiner Sicht sehr ungewöhnlich verhalten, indem
man ständig in den Medien versuchte, auf den anderen Druck auszuüben
und Schuld zuzuweisen. Das war kontraproduktiv und hat den gesamten
Sondierungsprozess behindert.

Wenn Sie im Schloss Bellevue sitzen würden, in welche Richtung
würden Sie die Parteichefs drängen?

Prof. Jun: Zwischenzeitlich haben alle Parteien erklärt, dass sie
Neuwahlen für eine realistische Option halten. Ich würde allerdings
den Parteien mit auf den Weg geben, dass sie dann nach einem erneuten
Urnengang im Frühjahr auch in der Pflicht stehen. Nun spiegelt das
jüngste Wahlergebnis sehr gut wieder, wie fragmentiert die politische
Willensbildung ist. Wäre da nicht das Experiment einer
Minderheitsregierung die passende Antwort?

Prof. Jun: Das ist verfassungsrechtlich möglich. Man schafft sich
aber neue Probleme. Eine Minderheitsregierung wäre instabil, in
Extremfällen könnte sie gar sogar auf Zufallsmehrheiten angewiesen
sein. Nicht übersehen darf man dabei auch, dass dieser Weg der AfD
unter bestimmten Umständen eine wichtigere Rolle bescheren würde,
nämlich in Einzelfällen möglicherweise die des Züngleins an der
Waage. Bisher sind wir mit dem in der parlamentarischen Demokratie
üblichen Gegeneinander von Regierungsmehrheit und Opposition gut
gefahren. Die Stabilität unserer politischen Ordnung gründet nicht
zuletzt darauf.  Ohne verlässliche Mehrheit stünde die Möglichkeit
einer Neuwahl ständig vor der Tür. Bisher haben wir funktionierende
Minderheitsregierungen vor allem in Staaten, in denen eine homogene,
auf Konsens beruhende politische Kultur prägend war, etwa in
Skandinavien. Dort gilt es als unverantwortlich, das politische
System in eine Krise zu stürzen, weshalb man immer wieder zu
Einigungen kommt. Ähnliches war bei den Jamaika-Sondierungen
jedenfalls in dieser Form nicht ersichtlich.

Wäre es nicht ein Armutszeugnis, erneut wählen zu lassen, weil den
Politikern das Ergebnis nicht genehm ist?

Prof. Jun: In den Ländern Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg
konnten in der Vergangenheit derartige Pattsituationen mit Neuwahlen
aufgebrochen werden. Es muss nicht zwangsläufig zur Wiederholung
eines ähnlich gelagerten Ergebnisses kommen. Der Wähler hat jetzt
auch neue Informationen, nämlich dass FDP und SPD für bestimmte
Konstellationen nicht zur Verfügung stehen, falls die SPD an ihrer
Haltung festhält. Nun kann er bewerten, wie wichtig ihm die
Herstellung einer stabilen Regierungsmehrheit ist. Falls die SPD ihre
Meinung ändert, wären Neuwahlen ohnehin obsolet.

Staatspolitisches Verantwortungsbewusstsein ist quasi in der DNA
der ältesten Partei, der SPD, verankert. Wie hoch wäre der Preis, um
die Sozialdemokratie zu überzeugen?

Prof. Jun: Die SPD hat ein anderes, bedenkenswertes
staatspolitisches Argument vorgebracht, nämlich, keine
„österreichischen Verhältnisse“ in Deutschland haben zu wollen, also
eine Dauer-GroKo, in der das Wechselspiel in der
Regierungsverantwortung außer Kraft gesetzt ist. Stattdessen wollen
die Sozialdemokraten wieder stärker den Wettbewerbsgedanken in den
Vordergrund stellen. Man müsste etwas anbieten, was die Sorge der SPD
vor schwindendem Ideenwettbewerb und schwindender Anhängerschaft
entkräftet.

So etwas wie einen Rückzug Angela Merkels?

Prof. Jun: Nun, die SPD kann natürlich den Wettbewerber nicht dazu
nötigen, ihr genehmes Personal aufzustellen.

Ausländische Kommentatoren läuteten bereits das Sterbeglöcklein
für die Ära Merkel. Zu früh?

Prof. Jun: Frau Merkel hat selbst einmal angekündigt, nicht so
lange regieren zu wollen wie Helmut Kohl. Wenn das stimmt, müsste
spätestens in oder nach dieser Legislaturperiode Schluss sein. Aber
noch ist sie als Kanzlerin keinesfalls Geschichte. Weder innerhalb
noch außerhalb der CDU sehe ich außer ihr jemanden, der die Macht
hätte sie abzulösen. Ist sie denn beschädigt, denkt man etwa an die
Kritik der FDP an ihrer Verhandlungsführung? Prof. Jun: Ich
bezweifle, dass nachgereichte Erklärungsmodelle, warum die
Sondierungsgespräche scheiterten, sie nachhaltig beschädigen. Zumal
Frau Merkel auch als Kanzlerin Entscheidungen nur in sehr seltenen
Fällen einfach durchgedrückt hat, sondern eher moderierend wirkte.
Diesem Stil, der sie immerhin drei Mal erfolgreich
Koalitionsverhandlungen führen ließ, ist sie auch jetzt treu
geblieben.

Würde die AfD, von denen viele Anhänger mit demokratischen
Entscheidungsprozessen fremdeln, bei Neuwahlen profitieren?

Prof. Jun:Das wäre eine mögliche Folge, aber keine notwendige. Es
kann auch sein, dass dem Wähler nun die Regierungsfähigkeit wichtiger
wird. In den entsprechenden Neuwahlen in den Ländern war es so, dass
die Regierungskräfte stärker wurden. Auch in Spanien war es nach
monatelanger Hängepartie so, dass nicht die populistische Podemos
profitierte, sondern die regierende Volkspartei.

Spiegelt die sichtbar gewordene Kompromissunfähigkeit der Parteien
einen entsprechenden Trend in der Gesellschaft wider? Immer weniger
Menschen etwa sind bereit, Kompromisse einzugehen, um sich in einer
Volkspartei zu engagieren. Lieber engagieren sie sich in
Bürgerinitiativen, um Partikularinteressen durchzusetzen.

Prof. Jun: In der Tat. Sie sprechen da einen besorgniserregenden
Trend an. Kompromisse werden oft mit einem negativen Beigeschmack
versehen, geradezu denunziert. Oft geht das damit einher, dass die
eigene Meinung höher gewertet wird als die anderer. Wir haben aber
eine Vielfalt an Meinungen, Werten und Interessen. Daraus müssen
Kompromisse geschmiedet werden. Immer öfter wird nun versucht, die
eigene Meinung über die anderer anzusiedeln. Das ist einer
Demokratie, die abhängig ist im Austarieren von Interessen, nicht
dienlich. Wir müssen aufpassen, dass uns die Fähigkeit zum Kompromiss
nicht verloren geht. Schon einmal ist eine deutsche Demokratie unter
anderem auch an gering ausgeprägter Kompromissfähigkeit gescheitert.

Das Interview führte Joachim Zießler

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