Lausitzer Rundschau: Gefahr für die Demokratie Der Bundesrat hat das neue Wahlrecht gebilligt

Überhangmandate gab es in Nachkriegsdeutschland
schon immer; sie sind die logische Folge eines Wahlsystems, das die
Abgeordneten einerseits direkt in ihren Wahlkreisen bestimmt,
andererseits die Zusammensetzung des Bundestages indirekt nach dem
Stärkeverhältnis der Parteien festlegt. So lange beide große
Volksparteien, Union und SPD, halbwegs gleichmäßig von ihnen
profitierten, waren sie kein großes Problem, wenngleich die
Benachteiligung der kleinen Parteien schon immer ein systemischer
Mangel war. Jedenfalls wurde durch Überhangmandate bisher nie die
Machtfrage im Land entschieden. Das ist jetzt anders geworden. Weil
sich die linke Seite des politischen Spektrums zersplittert in SPD,
Grüne, Linke und neuerdings noch Piraten, die rechte Seite aber
nicht, droht eine dauerhafte und dramatische Verzerrung des
Wählerwillens. Es ist theoretisch denkbar, dass die Union mit nur 30
Prozent der Zweitstimmen alle Wahlkreise gewinnt und damit schon 50
Prozent der Sitze im Bundestag einnimmt. Während die SPD, wenn sie
überall auf 28 Prozent kommt, auch nur 28 Prozent der Sitze hätte. In
der Praxis werden es Werte dazwischen sein. Damit ist das
grundsätzliche Problem der Überhangmandate offensichtlich. Eine
Stimme für die Union zählt im Ergebnis mehr als eine für andere
Parteien. Die Gleichheit der Wahl ist ausgehebelt. Dass das nicht nur
ein theoretisches Problem ist, zeigt der aktuelle Bundestag, in dem
die Union schon 24 Abgeordnete mehr hat, als ihr nach dem reinen
Verhältniswahlrecht zustehen würden. Jede CDU-Stimme wog 2009 rund
zehn Prozent mehr als eine Stimme für andere Parteien. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Wahlrechtsurteil von 2008 zwar
nicht die Überhangmandate an sich bemängelt, sondern nur ihr
mathematisches Randproblem, das negative Stimmengewicht. Es sorgte
bei einer Nachwahl 2005 in Dresden dafür, dass Unionswähler dort
ihrer Partei einen zusätzlichen Parlamentssitz besorgen konnten,
indem sie sie mit der Zweitstimme bewusst nicht wählten – besonders
absurd. Das neue Wahlgesetz, das Union und FDP nun vorgelegt haben,
löst dieses Spezialproblem zwar weitgehend, lässt aber die
eigentliche Ungerechtigkeit der Überhangmandate unangetastet. Und das
sehr bewusst. Die Reform mag zwar formal den Anforderungen der
Karlsruher Richter genügen, ist aber trotzdem Trickserei. Außerdem
wurde die Opposition, anders als sonst bei Änderungen des
Wahlrechtes, nicht einbezogen. Man merkt die Absicht und ist
verstimmt. Dieser Vorgang ist keine Lappalie. Das Wahlrecht muss von
allen akzeptiert werden, sonst werden nämlich die Ergebnisse von
Wahlen nicht mehr von allen akzeptiert. Für die Demokratie kann es
Schlimmeres gar nicht geben, wie man in vielen Ländern der Welt
sieht. Den am Freitag erhobenen Verfassungsbeschwerden von Bürgern,
diesmal direkt gegen die Überhangmandate, ist daher von Herzen ebenso
Erfolg zu wünschen wie der Klage, die die SPD angekündigt hat. Auch
wenn die Sozialdemokraten mit ihren Argumenten deutlich glaubhafter
wären, wenn sie sich schon gegen die Überhangmandate gewendet hätten,
als sie selbst noch zu den Mitprofiteuren des Systems gehörten.

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