Der Runde Tisch Heimerziehung hat etwas für diese
Gesellschaft Verstörendes festgestellt: In der jungen deutschen
Nachkriegsdemokratie, auf die wir so stolz sind, gab es mehr als zwei
Jahrzehnte lang ein flächendeckendes Unrechtssystem. Es hat
800000gesunde, aber wehrlose Kinder und Jugendliche
aufgesogen, eingesperrt, vielfach misshandelt und mit
21Jahren geschädigt wieder ausspuckt. Heute sind die
Betroffen 50 bis 70 Jahre alt, und viele von ihnen leiden schwer
unter den Folgen. Materiell, psychisch und physisch. Der Runde Tisch
hat zudem festgestellt, dass alle Ebenen dafür Verantwortung tragen.
Die Eltern, die ihre Kinder einweisen ließen, weil sie mit ihnen
nicht zurechtkamen. Die Jugendämter, die die Einweisungen vornahmen.
Die Heimträger, allen voran der Kirchen, die die menschenfeindlichen
Erziehungsmethoden entwickelten oder zuließen. Die Länder, die die
Heime hätten beaufsichtigen müssen. Schließlich der Gesetzgeber, der
das hätte verhindern müssen. Sogar die Presse ist mitschuldig, die
nicht recherchierte und nicht berichtete. Alles, was der Runde Tisch
ermittelt hat, spricht somit dafür, das Heimkinderschicksal als
kollektives Schicksal zu begreifen und daher kollektiv zu
entschädigen. So wie die Organisationen der Heimkinder es gefordert
haben. Über die Größenordnung mag man verhandeln. Doch genau an
diesem Punkt wird der Schlussbericht plötzlich individuell und
verlangt Einzelfallbetrachtung. Denn nicht in allen Heimen sei es so
gewesen, nicht alle Erzieher hätten versagt. Die Betroffenen werden
nun auf den mühseligen Weg von Anträgen geschickt. Sie können
individuelle Hilfen erreichen, aber sie bekommen keinen Cent für das
Unrecht an sich. Warum hat der Runde Tisch so entschieden? Weil diese
Bundesrepublik es nicht vertragen hätte, wenn man ihr nachsagen
könnte, dass in ihr von 1949 bis 1975 systematische, staatlich
geduldete Menschenrechtsverletzungen begangen wurden? Nein, das wäre
für die Gesellschaft, für den künftigen Umgang mit Wehrlosen, sogar
sehr lehrreich gewesen. In Wahrheit war den Beteiligten von Bund,
Ländern und Kirchen die Entschädigungssumme zu hoch, die bei einer
pauschalen Zahlung fällig geworden wäre. Es hätten leicht mehrere
Milliarden sein können. Sie wären es wert gewesen. Denn so bleibt,
trotz aller lobenswerten Bekenntnisse der Teilnehmer des Runden
Tischs noch lange dieser unschöne Fleck auf der Weißen Weste unserer
Nachkriegsdemokratie. Ein Fleck, der keine Ruhe geben wird.
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