Mittelbayerische Zeitung: Herkulesaufgabe Der Qualitätsbericht darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Pflegekonzept fehlt. Von Christian Kucznierz

Wenn „satt und sauber“ das Ziel der Pflege sein
soll, lautet die gute Nachricht des gestern vorgestellten
Pflege-Qualitätsberichts: Mission erfüllt. Zumindest sind die
Missstände, die vor fünf Jahren für einen Aufschrei gesorgt haben,
größtenteils beseitigt – und das ist gut so. Allerdings sind die
erfreulichen Verbesserungen auch schnell ein all zu sanftes
Ruhekissen, frei nach dem Motto: passt schon. Geht doch. Aber das ist
eben nicht der Fall. Bis heute fehlt ein schlüssiges, umfassendes
politisches Konzept, wie auf die Bedürfnisse einer immer älter
werdenden Gesellschaft reagiert werden kann. Morgen wird sich der
Bundestag erstmals mit dem Vorschlag zur Pflegereform aus dem
Gesundheitsministerium befassen. Umsetzung ungewiss. Dabei stand das
vergangene Jahr unter einem ganz besonderen Motto. Es war nicht das
Jahr der Finanzkrise oder der Rettungsschirme. Der damalige
Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler hatte 2011 zum Jahr der
Pflege ausgerufen. Geliefert hat er nicht. Sein Nachfolger Daniel
Bahr ist nun kurz davor, das nachzuholen. Dabei trifft weder Bahr
noch Rösler unbedingt die Schuld. In Sachen Pflege grassiert bei
allen Bundesregierungen und zuständigen Ministern politische Demenz.
Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Kurve in der Demografie sich
verschiebt. Es gibt immer weniger Junge, die immer mehr Alte
versorgen müssen, die noch dazu immer älter und leider auch immer
kränker werden. Knapp 61 Prozent der Pflegeheimbewohner sind heute im
Alltag durch Demenz oder andere gerontopsychiatrische Krankheiten
eingeschränkt – Tendenz steigend. Erst vor wenigen Monaten schreckte
die Zahl auf, dass derzeit in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen
mit einer mittleren bis schweren Demenz leben – und dass Experten für
das Jahr 2050 mit mehr als zwei Millionen Betroffenen rechnen. Jeder
dritte Mann und jede zweite Frau werden im Laufe ihres Lebens nach
aktuellen Schätzungen dement. Doch dem Schreck folgt das Vergessen –
wie in den vergangenen Jahrzehnten auch schon. Bahrs Reformkonzept
von vornherein zu verdammen ist freilich nicht gerecht. Man kann
würdigen, dass es im besten Fall bis zu 225 Euro zusätzlich geben
soll. Oder etwa, dass Ärzte höhere Anreize erhalten sollen, um
Hausbesuche durchzuführen. Oder dass alternative Wohnformen wie
Wohngruppen gefördert werden sollen. Aber das alles wird nicht
reichen. Es ist nicht einmal der Tropfen auf dem heißen Stein. Es ist
eher so, dass der Tropfen schon vor dem Auftreffen auf den Stein
verdampft ist, weil es um ihn herum schon so heiß geworden ist. Die
dringend notwendige Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
etwa ist bislang ausgeblieben. Denn der Begriff definiert, wer welche
Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung hat – wovon auch
abhängen wird, wie teuer die Pflege für die Gesellschaft kommt. Auch
hier greift wieder die politische Demenz: Bereits 2006 hatte die
damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einen Beirat
eingesetzt, der drei Jahre später einen Vorschlag vorlegte, wie
Pflegebedürftigkeit definiert werden könnte. Doch dieses Konzept
wurde nicht umgesetzt. Seit 1. März tagt nun erneut ein Expertenrat,
den Bahr eingesetzt hat. Dass dieses Gremium bis zum Ende der
Legislatur zu einem Ergebnis kommt, bezweifeln die Fachleute. Und
wenn, dann wäre Bahrs Konzept Makulatur. Das hat er selbst schon
angekündigt. Was fehlt, ist die Vision dessen, was für eine Pflege
wir wollen. Dazu gehört auch ein Konzept, wie der Beruf des Pflegers
endlich aufgewertet werden könnte. Und dazu gehört auch, der Wahrheit
ins Gesicht zu sehen, dass das alles sehr viel Geld kosten wird. Aber
diejenigen, die bereit sind, Fantastilliarden in Rettungsschirme zu
stecken, und die, die das akzeptieren, sollten sich überlegen, dass
das Systemrelevanteste in unserer Gesellschaft die Menschen sind.
Egal, wie alt.

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