Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Atomausstieg:

Nicht immer ist ein Name Programm. Dass
Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgerechnet eine »Ethikkommission« mit
der Frage beauftragt hat, wann ein Ausstieg aus der Atomkraft möglich
ist, hätte den Befürwortern einer möglichst langen Nutzung zu denken
geben müssen. Denn die Ethik neigt zu fundamentalistischen
Forderungen. Wenn die Atomkraft – und daran kann es spätestens nach
Tschernobyl und Fukushima keinen Zweifel mehr geben – Menschenleben
gefährdet, dann müssen die Kernkraftwerke eigentlich sofort
abgeschaltet werden. Und das ist wörtlich zu nehmen. Hinzu kommt
nämlich die ungeklärte Endlagerfrage. Keine Ethik kann es
verantworten, dass die jetzige Generation die Lösung dieses Problems
weiter den Kindern und Kindeskindern zuschiebt. Nun trägt die von
Klaus Töpfer geführte Kommission zwar die Ethik in ihrem Namen. Zu
ihren Mitgliedern zählt sie aber auch Praktiker aus Forschung,
Politik und Industrie. Deren Einfluss reicht immerhin soweit, dass
aus dem »sofortigen« offenbar ein »möglichst schneller« Ausstieg
geworden ist. Das Datum 2021 ist wie zufällig etwa das gleiche, auf
das sich einst die rot-grüne Koalition bei ihrem Ausstiegsprogramm
geeinigt hatte. Kaum denkbar, dass eine Bundesregierung noch einmal
einen Zuschlag zu Gunsten der Energiekonzerne durchsetzen könnte. Die
nun wohl nicht nur vorübergehende Stilllegung der Oldtimer unter den
deutschen Reaktoren zeigt, dass Horrorszenarien für den Fall, dass
die Atomkraft nur irgendwie eingeschränkt werde, falsch gewesen sind.
Auf der anderen Seite kommt man aus praktischer Sicht nicht daran
vorbei, dass so ein großer Schritt wie die Abschaltung aller
Atomkraftwerke vorbereitet werden muss. Selbst die Grünen setzen ein
Datum, wenn auch vier Jahre früher als die Kommission. Niemandem wäre
geholfen, wenn das Energienetz zusammenbräche. Auch der Ersatz
inländischer Atomkraftwerke durch solche knapp jenseits der Grenze zu
Frankreich und Tschechien wäre allenfalls ein fragwürdiger
Fortschritt. Das Gleiche gälte für einen Ersatz durch Kohle- oder gar
Braunkohlekraftwerke, die die Atmosphäre belasten. Damit der Umstieg
gelingt, muss der Ausbau der regenerativen Energien deutlich an Tempo
zulegen. Keiner weiß, wie schnell die Hochspannungsleitungen, die den
alternativen Strom vom Norden in die dichtbesiedelten Regionen
Süddeutschlands transportieren sollen, gebaut werden können. Da
werden noch manche Einzelinteressen und sogar Belange des
Naturschutzes zurückstehen müssen. Eine klare Aussage der Regierung,
die von möglichst allen Parteien mitgetragen wird, verschafft den
Konzernen und Privatpersonen, die investieren sollen, die notwendige
Sicherheit. Das ist eine Frage der Praxis. Aber eine positive Antwort
bringt in der Sache mehr als ethischer Fundamentalismus.

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