Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Atomausstieg:

Ob sie will oder nicht: Nach dem Ja der
Grünen-Spitze zum schwarz-gelben Atomausstieg muss nun auch die
Parteibasis Farbe bekennen. Am kommenden Samstag könnte der
Sonderparteitag in Berlin zur Zerreißprobe werden. Es geht für die
Grünen um wichtige Weichenstellungen – nicht nur in der Atomfrage,
sondern weit darüber hinaus. Die Grünen stecken nach Angela Merkels
Atomwende in einem ärgerlichen Dilemma. Dass sie einem Atomausstieg
zustimmen werden, für den sie 30 Jahre lang gekämpft haben, versteht
sich auf den ersten Blick zwar von selbst. Aber ganz so einfach ist
es nicht: Denn immerhin müssen die Grünen einer schwarzen
Bundeskanzlerin zustimmen. Das hat es in der Geschichte so häufig
noch nicht gegeben. Hinzu kommt, dass sie es ausgerechnet bei einem
für sie ganz elementaren Thema tun müssen, für das die grüne Bewegung
insgesamt drei Jahrzehnte lang die Knochen hingehalten hat – nicht
nur bei Castor-Transporten. Dass Angela Merkel den Grünen ihr
ureigenes Thema geraubt hat, macht die Sache für sie nicht leichter.
Die Basis der Partei, vor allem der linke Flügel, wird sich äußerst
schwer tun, Merkels Weg zu folgen: Denn erstens wollen die Grünen
bereits 2017 und nicht erst fünf Jahre später raus aus der
Kernenergie, und zweitens fordern sie beim Ausbau der erneuerbaren
Energien, der Leitungsnetze und Speicherkapazitäten deutlich mehr
Tempo als es zuletzt der Fall war. Viel schlimmer als sämtliche
inhaltlichen Details ist für die Grünen aber, dass nicht sie, sondern
Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschland vor dem laut Grünen
»unermesslichen Risiko dieser Technologie für Mensch und Natur«
befreien wird und sie diesen Plan nur abnicken können. Trotz aller
sich jetzt schon abzeichnenden Widerstände: Die Parteibasis weiß,
dass ein Nein zum Atomausstieg politischer Selbstmord wäre. Die
Mitglieder sind gezwungen zuzustimmen, weil sie sonst mit dem Vorwurf
konfrontiert werden, ihr jahrelanges Hauptziel selbst zu blockieren.
Die nächste Woche könnte unangenehm für die Grünen werden. Je mehr
der Widerstand vor dem Parteitag wächst, desto schwieriger wird es,
das lästige Thema schnell von der Tagesordnung zu bekommen. Von dem
Ziel eines einvernehmlichen Parteitages sind die Grünen weit entfernt
– ganz zu schweigen von der Gefahr, dass intern neue Gräben
aufgerissen werden könnten. Für die Grünen beginnt die Woche der
Wahrheit und damit bereits vor Stuttgart der Stresstest – jedoch auf
Bundesebene. Die Basis muss entscheiden, ob sie ihrer Führung folgt.
Tut sie es, kann Angela Merkel ihren schwarz-grünen Plan im Hinblick
auf die Bundestagswahl 2013 weiter vorantreiben, während FDP und SPD
nur zuschauen.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261