Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Aussetzung der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken

Für Kritiker der Regierung Merkel ist die
gestern angekündigte Aussetzung der Laufzeitverlängerung nichts
weiter als Beschwichtigungspolitik. Eine Beruhigungspille für die
aufwallende Volksseele, die angesichts der Atomkatastrophe in Japan
die Kernkraft plötzlich viel kritischer sieht und landauf, landab auf
die Straßen geht. Ein Placebo für die Wähler, die doch bitte vor
allem beim wichtigen Urnengang in Baden-Württemberg ihr Kreuzchen an
der richtigen Stelle – nämlich bei CDU oder FDP – machen sollen. Doch
so einfach funktioniert Politik nicht. Auch ist es weltfremd zu
glauben, dass die Deutschen schon am 14. Juni vergessen hätten, was
am 14. März in solch einer zentralen Frage unserer Zukunftsgestaltung
gesagt worden ist. Für so dumm lassen sich die Menschen zum Glück
nicht verkaufen. Wenn Merkel erklärt, dass nach dem dreimonatigen
Moratorium nichts mehr so sei wie heute, ist das eine weitreichende
Selbstverpflichtung. Ohne echte Änderungen am gerade erst
beschlossenen Ausstieg aus dem Atomausstieg stünde die schwarz-gelbe
Bundesregierung endgültig vor dem Scherbenhaufen ihrer reichlich
verkorksten Energiestrategie. Allein schon die Opposition wird das
Thema mit ganzer Kraft wachhalten. Zu Recht. Nicht nur, weil es ihre
vornehmste Pflicht ist, die Regierung zu kontrollieren, sondern auch,
weil SPD und Grüne nirgends so klar für einen anderen Kurs standen
wie im Umgang mit der Kernenergie. Mit ihrem Gesprächsangebot an alle
gesellschaftlich relevanten Gruppen versucht Merkel spät, einen neuen
nationalen Konsens in der Energiedebatte zu erzielen. Einen Konsens,
den Union und FDP allerdings selbst zuvor aufgekündigt hatten. Nicht
erst am Drama von Japan nämlich, sondern bereits an ihrem eigenen
Beschluss der Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke
entzündete sich die Atomdebatte von Neuem. Das Drama von Fukushima
freilich ließ der Regierung keine Wahl mehr. Sie war zum Handeln
gezwungen. Nun scheint Merkel gewillt, einen Kardinalfehler ihrer
Regierung beheben zu wollen. Bis dato nämlich war der Ausstieg aus
dem Atomausstieg allenfalls blumig erklärt worden. Um sprachlich im
Bild zu bleiben: Die Brücke der Begründung trug nicht. Kein Wunder
also, dass der Laufzeitverlängerung von Beginn der Verdacht
anhaftete, pure Interessenpolitik im Namen der vier deutschen
Energieriesen zu sein. Man muss skeptisch sein, was eine »ehrliche
Energiediskussion« angesichts der scharfen Frontlinien bringen mag.
Die Regierung hingegen hat kaum etwas zu verlieren. Sie stand
spätestens seit Freitag mit ihrem Atomkurs auf verlorenem Posten. Das
hat Merkel gestern still, aber deutlich vernehmbar eingeräumt. Nun
die Gesellschaft auf breiter Basis mit in die Verantwortung zu
nehmen, ist so etwas wie Eingeständnis und Flucht nach vorn zugleich.
Jetzt muss sich zeigen, was den Deutschen die Energiewende wirklich
wert ist. Auf das Ergebnis darf man sehr gespannt sein.

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