BERLINER MORGENPOST: Kommentar zu neuen deutschen Unzuverlässigkeit

Das Euro-Rettungspaket, die Enthaltung bei der
UN-Resolution zu Libyen, die einsame Kehrtwende in der Atompolitik –
die europäischen Partner reiben sich die Augen über Deutschland. Es
ist eine Mischung aus Staunen, Verständnis, Verunsicherung und
Verärgerung. Wohin will Deutschland? Die Frage ist berechtigt. Seit
Beginn der Euro-Krise vor knapp einem Jahr verändert sich die
deutsche Politik in Europa, es zeichnen sich substanzielle
Verschiebungen ab, deren Ende noch unklar ist und die sich nicht auf
Wahlkampfpolitik reduzieren lassen. Die deutsche Kanzlerin setzt
stärker als ihre Vorgänger auf eine Politik, die die nationalen
Interessen Deutschlands in den Vordergrund rückt. Das irritiert die
Partner. Im Prinzip ist es richtig, dass Merkel mehr Eigenständigkeit
nach außen riskiert, das ist auch ein historischer
Emanzipationsprozess. Nur: Die Ergebnisse dieser neuen Politik sind
bisher schlecht – aus deutscher und aus europäischer Sicht.
Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit, taktische Fehler, aber
teilweise auch Konzeptionslosigkeit prägten die Politik der
Bundesregierung. So hat der plötzliche Entschluss Berlins, ältere
Kernkraftwerke vorläufig abzustellen, Frankreich, Großbritannien und
zahlreiche andere EU-Länder kalt erwischt – nur die Rasanz der
Weltereignisse hat ihren Zorn gezügelt. Dagegen haben Merkels
Pirouetten in der Euro-Krise die Partnerländer letztlich versöhnt –
sie haben aber Zweifel daran aufkommen lassen, ob die Kanzlerin so
genau weiß, was Standhaftigkeit bedeutet und wo die deutschen
Interessen liegen. Erst verteufelte sie eine „Wirtschaftsregierung“,
dann war sie plötzlich dafür und legte sogar einen eigenen Plan vor.
Berlin war zunächst auch gegen Hilfen für den chronischen
Schuldensünder Griechenland – dann ging es doch. Auch einen
Dauerrettungstropf für Länder, die selbstverschuldet in die Pleite
rutschen, wollte Merkel nicht – sie revidierte auch diese Position
und machte sich zur Anwältin eines permanenten Krisenmechanismus
(ESM). Der neue Haftungsschirm kann möglicherweise Spekulationen
eindämmen, aber er steckt auch voller Risiken. Er ist praktisch
unlimitiert. Wie konnte Merkel diesem Paket nur zustimmen? Liegt das
deutsche Interesse mal hier, mal da? Die Europäer wundern sich über
ihre Kehrtwenden, aber sie sind zufrieden, die „europäische
Solidarität“ ist gestärkt. Anders als beim Euro hat Berlin die
wichtigsten Bündnispartner in der Libyen-Frage nicht nur irritiert,
sondern massiv verärgert. Nicht nur die Enthaltung im
UN-Sicherheitsrat über die Einrichtung einer Flugverbotszone, sondern
auch die anhaltenden öffentlichen Belehrungen, die Besserwisserei von
Politikern wie Kauder, Westerwelle und Niebel haben vor allem Paris
und London tief verbittert. Die Beziehungen zu Frankreich haben einen
neuen Gefrierpunkt erreicht. Dabei ist der Flurschaden weitaus
größer, als es aus Berliner Sicht den Anschein hat. Das wäre alles zu
verkraften, wenn diese Enthaltung im deutschen Interesse wäre. Aber
das ist sie nicht. Deutschland kann nicht zulassen, dass ein irrer
Diktator direkt vor der europäischen Haustür rumwütet, die
Menschenrechte verletzt und deutsche Stabilitäts- und
Wirtschaftsinteressen gefährdet.

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