Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Christian Wulff:

»Ich nehme die Wahl an.« Als Christian Wulff am
30. Juni 2010 um 21.08 Uhr mit diesen Worten sein Amt antrat, hatte
er die dramatischste Phase seiner bislang einjährigen
Bundespräsidentschaft auch schon durchgestanden. So viel Ruhe und
Souveränität Wulff inzwischen ausstrahlt, so turbulent war er in die
Nachfolge des aus nicht nachvollziehbaren Gründen zurückgetretenen
Horst Köhler gerückt. Mit Joachim Gauck hatten SPD und Grüne einen in
allen Lagern mehrheitsfähigen Gegenkandidaten aufgestellt. Nicht
wenige Wahlmänner und Wahlfrauen aus dem bürgerlichen Lager gaben dem
Ex-Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in zwei Wahlgängen
ihre Stimme. Wiederholt hatte Wulff die nötigen 623 Stimmen für eine
absolute Mehrheit verfehlt. Ironie der Geschichte: Als nur noch die
höchste Stimmenzahl für einen Bewerber ausschlaggebend war und ein
Desaster drohte, gab es 635 Stimmen für Wulff. Nach anfänglich kurzem
Wirbel um Ferien in einer Millionärsvilla auf Mallorca ließ der
Kohl-Eleve und langjährige Ministerpräsident von Niedersachsen
erstmals im neuen Amt aufhorchen. Am 3. Oktober 2010 prägte er diesen
Satz: »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.« Das Echo
blieb nicht aus. Die einen feierten schon den großen Integrator. Die
anderen fürchteten das genaue Gegenteil für den christlich-jüdischen
Wertekanon. Selbst die Bundeskanzlerin sah sich zur Klarstellung
genötigt. Die Wulff-Worte bedeuteten nicht, dass der Islam das
Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands sei,
korrigierte Merkel den ersten Mann im Staate. Und, nicht minder
heikel: Maßstab für Integration sei das Grundgesetz – nicht die
Scharia. Das Brausen am Polithimmel über Berlin hielt an, bis Wulff
am 19. Oktober als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der
türkischen Nationalversammlung sprach und dort den Bogen zu Ende
führte: »Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei.« In mehr als
20 Ländern und überall in Deutschland hat Wulff inzwischen seine
Visitenkarte abgegeben. Wohlwollende Beobachter nennen ihn so
umtriebig wie kaum einen seiner neun Vorgänger. Der Bundespräsident
selbst hält den Ball flach, sieht sich »im Amt angekommen«.
Sympathisch finden ihn 80 Prozent der von »Bild am Sonntag« jüngst
befragten Deutschen. Ähnlich viele vermissen allerdings auch
politische Reden mit »klarer Kante«. Das ist und bleibt das zentrale
Problem des 52-Jährigen. Selbst die von Roman Herzog 1997 eingeführte
»Berliner Rede« ließ er ungenutzt. Stattdessen überließ er Polens
Präsident Bronislaw Komorowski die Bühne. Das muss nicht Kleinmut
gewesen sein. Wulff ist auch ausgebuffter Politprofi, der um die
Brisanz politischer Gratwanderungen weiß. Bewusst dosiert er seine
Botschaften. Das Ziehen langen Linien hat gerade erst begonnen. Wenn
Wulff sich treu bleibt, hat er noch viel Zeit dafür.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261