Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Occupy Wall Street/Demonstrationen

Am vergangenen Wochenende hat der Unmut einmal
mehr den Weg auf die Straßen gefunden – diesmal allerdings nicht nur
auf die Straßen der US-Großstädte. Auch in Deutschland sind tausende
dem Vorbild der „Occupy Wall Street“-Bewegung gefolgt und haben ihrem
Unmut Luft gemacht. Wer mag, kann diesen Protest kleinreden. Es wäre
aber ein großer Fehler, dies zu tun. Es gibt genug Anzeichen dafür,
dass sich etwas grundlegend verändert in unserer Gesellschaft. Ein
Blick nach Stuttgart reicht. Dort wurden Proteste gegen ein
Bahnvorhaben zu einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung
zwischen dem, was ein als abstrakt empfundener Staat auf der einen
Seite will, und dem Willen einer vermeintlichen Mehrheit der Bürger
auf der anderen Seite. Es war viel hoch stilisiert worden in dieser
Auseinandersetzung. Aber sie hat einer Art von
Basisdemokratie-Sehnsucht Nahrung gegeben – und dem Gefühl Ausdruck
verliehen, dass etablierte Politik nicht mehr die Lebenswirklichkeit
widerzuspiegeln vermag. Auch nach Berlin muss der Blick gehen: Mit
welcher Begründung schafft es eine Partei wie die Piraten, sich in
ein Parlament zu katapultieren, ohne jegliche Regierungserfahrung,
ohne große Programme, ohne all das, worüber die Volksparteien immer
wieder streiten müssen? Vor allem mit der, dass die Wähler jenen
Volksparteien nicht mehr glauben. Dieser Verlust des Vertrauens in
die Gestaltungsfähigkeit der etablierten Politik hat eine Reihe von
Gründen. Der wichtigste ist die der fehlenden Grunderzählung. Wohin
geht die Reise in einer globalisierten Welt ohne Großkonflikte?
Nicht, dass man sich die Zeiten des Kalten Krieges zurückwünschen
sollte. Aber es fehlt an einer Grundphilosophie. Die, die den Platz
des Ost-Westkonflikts einnahm, war eine grundkapitalistische: die
Maximierung des eigenen Gewinns – materiell wie persönlich. Das ist
eine vollkommen nachvollziehbare menschliche Haltung. Die aber hat in
einer globalen Weltwirtschaft die Folge, dass der Markt, der vor
allem sich selbst dient, irgendwann eine von der Gesellschaft
losgelöste Rolle einnimmt. Die Folgen hat die Welt mit der globalen
Bankenkrise erlebt. Und die Eurokrise ist auch nichts anderes als das
Resultat eines enthemmten Hedonismus, also einer
Selbstbedienungsmentalität, in deren Zentrum der eigene Vorteil, ja,
die Lust an der rücksichtslosen Selbstverwirklichung stand. Auf die
Party folgt der Kater. Der ist aber umso heftiger, weil wir
feststellen, dass die Rechnung auch noch nicht bezahlt ist. Der Ärger
richtet sich auf die Banken – und auf die Politik, die diesem Treiben
zu lange zugeschaut hat. Diese Reaktion ist richtig und falsch
zugleich. Richtig, weil spätestens die Eurokrise zeigt, dass die
Politik das Heft vollends aus der Hand gegeben hat und an
Lösungsversuchen herumdilettiert. Regierungen sind zu Getriebenen
geworden, die von einem drohenden Flächenbrand zum nächsten hetzen.
Falsch, weil es in Demokratien die Bürger sind, die entscheiden, wer
regiert (was aber auch voraussetzt, dass sie wählen gehen). Damit
sind wir wieder bei den Protesten: Viele Bürger fühlen sich nicht
mehr repräsentiert durch „den Staat“ oder „die Parteien“. Sie fühlen
sich betrogen von einer Finanzwelt, in der sich wenige auf Kosten
aller bereichern – und der die etablierte Politik machtlos
gegenübersteht. Die Demonstranten haben es satt, selbst zur
Spekuliermasse zu werden. Denn die Auswirkungen der Turbulenzen auf
den Weltmärkten sind nicht mehr sich verändernde abstrakte Zahlen im
Börsenteil; sie sind Windböen geworden, die immer mehr Menschen im
Alltag entgegenwehen. Auf der Straße entlädt sich derzeit die Angst
vor der Zukunft. Die Politik muss sich dem annehmen. Der Schritt von
friedlich demonstrierenden Menschen zu Szenen wie in London, wo
nächtelang Autos brannten, oder Rom, wo dies am Wochenende geschah,
ist zu klein, um ihn zu ignorieren.

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