Südwest Presse: Kommentar zu Arbeitszeiten

Die geistig-moralische Wende, die Kanzler Helmut Kohl
in den 1980er Jahren ausgerufen hatte, ist wohl nicht so recht
eingetreten. Den Älteren ist auch noch sein Wort vom „Freizeitpark
Deutschland“ in bester Erinnerung, mit dem er die Deutschen zu mehr
Anstrengung und längerer Arbeit anhalten wollte. Spätestens jetzt, 30
Jahre später, stellt eine französische Studie fest: Die Deutschen
arbeiten mit am längsten in ganz Europa. Donnerwetter, das überrascht
uns nicht wenig und durchaus angenehm. Schließlich musste der
Deutsche sich lange bangen Herzens fragen, ob sein früher
sprichwörtlicher Fleiß ihm abhanden gekommen war und zum alsbaldigen
wirtschaftlichen Niedergang führen wird. Dass wir uns im verschärften
Wettbewerb der alten und neuen Wirtschaftsmächte noch einigermaßen
gut über Wasser gehalten haben, wurde bisher einer anderen
Sekundärtugend zugeschrieben: Produktivität und beste Organisation.
Von solch altvorderen Charakterzügen wie tüchtigem Arbeiten war da
nie die Rede. Und jetzt dies: Ausgerechnet die Deutschen, die so viel
verreisen und ihre Freizeit fast schon zum Kult erheben, ausgerechnet
sie sind heute, was sie früher mal waren – leidenschaftliche
Workaholics, begeisterte Schaffer. Waren wir gar schon immer so? Und
pflegten nur die uns eigene kritische Nabelschau? Oder sollte die
geistig-moralische Wende doch stattgefunden haben – unbemerkt?

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Südwest Presse
Lothar Tolks
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