Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Atomausstieg:

Nicht ohne Grund hat der Bundestag unmittelbar
vor dem Jahrestag der Atomkatastrophe von Fukushima eine
Zwischenbilanz der Energiewende gezogen. Der Ausstiegsfahrplan steht,
aber die Umstellung auf erneuerbare Energien hakt. Durchaus
berechtigt sind Sorgen, dass das Gesamtprojekt scheitert.
Offshore-Windparks sind zwölf Monate im Verzug, weil der Ausbau der
Netze stockt. Stark schwankende Erträge aus Wind und Sonne können
nicht zwischengelagert werden, weil neue Pumpspeicherkraftwerke vor
Genehmigungs- und Finanzhürden stehen. Bei der Suche nach den
Ursachen sollte man es sich nicht so einfach machen wie
SPD-Energieexperte Ulrich Kelber. Er unterstellt, Schwarz-Gelb wolle
in Wahrheit die Wende scheitern lassen, damit die alten Atommeiler
länger laufen. Beleg: die jüngsten Kürzungen bei der Solarförderung.
Tatsächlich hat sich die Bundesregierung zu einem massiven Eingriff
entschlossen, der – je eher um so besser – eine Fehlentwicklung
verhindert. Auch Sozialdemokraten, Linke und selbst Grüne – wenn auch
nicht so deutlich – sehen das Problem: Die hohe Einspeisevergütung
für Solarstrom ist extrem unsozial. Weil alle Bürger, ohne jede
Staffelung nach persönlicher Leistungsfähigkeit, per Stromrechnung
den Solarboom bezahlen, geraten die Prinzipien soziale Gerechtigkeit
und ökologische Nachhaltigkeit in eine ungewohnte
Entweder-Oder-Situation. Bitter: Sozialschwache aus der Mietskaserne
zahlen, damit finanziell besser gestellte Haus- und Grundbesitzer
nebenan mit der Sonne um die Wette lachen. Mehr noch: Großinvestoren
und internationale Fonds kassieren nicht selten zweistellige
Renditen. Vor allem aber: Unser bisheriges Fördermodell für
Photovoltaik finanziert Arbeitsplätze in Südostasien, wo mehr als 80
Prozent der Solaranlagen hergestellt werden. Schon vergessen? 2008
und 2009 war es die Solarindustrie selbst, die intern davor warnte,
dass zu hohe Subventionen notwendige Innovationen bei den heimischen
Herstellern verhindern. Deshalb sollten wir uns keinen Tag länger mit
der Solardebatte aufhalten, sondern die Windkraftanlagen fördern, den
Netzausbau vorantreiben und neue Hürden vermeiden. Wer nur auf
Erdkabel setzt und nach der Devise verfährt, das Teuerste ist gerade
gut genug, der leistet der Energiewende einen Bärendienst.
Kontraproduktiv ist auch der Versuch von NRW-Umweltminister Johannes
Remmel (Grüne) über eine höhere Netzabgabe Speicherkraftwerke zu
subventionieren. Denn am Ende müsste wiederum der kleine Verbraucher
für die glänzenden Geschäfte der Großen blechen. Deshalb sind bis
zum Abschalten des letzten Meilers Pragmatismus, Entschlossenheit und
soziales Gewissen gefordert. Die Energiewende ist keine Spielwiese,
sondern knallhartes Business, mit dem Deutschland Wachstum und
ökologische Verantwortung weltweit vorlegen kann.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261