Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zuÄgypten

Soviel zum arabischen Frühling, zumindest in
Ägypten. Auf das Erwachen der Freiheit und die erste zarte Blüte
gesellschaftlicher Öffnung folgt in Kairo direkt der Herbst. Mit der
systematischen Machtergreifung der Muslimbrüder werden Schritt für
Schritt alle Elemente demokratischer Verfassung in die Tonne
getreten. Auf einen gestürzten Autokraten folgt nach kurzer
Übergangszeit schon der nächste. Streiche: Husni Mubarak, setze:
Mohammed Mursi. Der Präsident erlangte – allerdings durch weitgehend
freie Wahlen legitimiert – die Macht im Lande. Danach schickte er das
Parlament nach Hause. Am Donnerstag war dann die dritte Gewalt im
Staate fällig. Mursi setzte die Justiz matt und kassierte alle
früheren Urteile, die ihm missfielen. Dieser letzte perfide Griff
nach der Allmacht erfolgte auf dem Höhepunkt seines wie aus dem
Nichts erlangten neuen Ansehens. Er war gerade – auch in westlichen
Medien – zum Friedensstifter von Gaza erhoben worden. Die jüngsten
Entwicklungen in Ägypten lassen den achttägigen Schlagabtausch der
Hamas mit Israel in einem ganz neuen Licht erscheinen. Ganz
praktisch: Der Raketenhagel der Hamas, insbesondere die neue
Reichweite bis Tel Aviv und Jerusalem, basiert auf Nachschub aus dem
Iran. Die Waffen gelangten über die gemeinsame Grenze mit Ägypten
nach Gaza. Die jungen Aktivisten der Revolution am Nil haben die
Hoffnung noch nicht aufgegeben. Tatsächlich sind die Liberalen und
alle anderen Nichtislamisten dort durchaus eine Größe. Am Freitag
zeigten sie mit breiter Präsenz, wütenden Parolen und auch mit
Brandsätzen, dass sie noch da sind. Allerdings kämpft die Opposition
ohne Waffen und nur mit Worten gegen einen wieder erstarkten
Polizeistaat. Mursi hat vorsorglich die Sicherheitskräfte von
gerichtlicher Kontrolle freigestellt. Das zeigt, dass er Mubaraks
alten Unterdrückungsapparat braucht, sich dessen Loyalität mit
solchen Entscheidungen aber auch noch sichern muss. Was denkt
eigentlich US-Außenministerin Hillary Clinton in diesem Moment
wirklich? Zum einen hat sie Mursi die große Bühne als Friedensfürst
überlassen. Zum anderen dürfte sie bei ihren letzten Gesprächen in
Kairo die anhaltende Militärhilfe aus den USA nicht unerwähnt
gelassen haben. Wie auch immer: Die US-Diplomatie verliert angesichts
des Durchmarsches der Muslimbrüder an Glanz. Kein Wunder, dass sich
Benjamin Netanjahu zumindest nach Ansicht seiner Landsleute mit dem
Verzicht auf eine Bodenoffensive gegen Gaza keinen Gefallen getan
hat. Denn: Sobald der Umbau Ägyptens zu einem zweiten Pakistan einmal
haken sollte, bietet sich die Gaza-Grenze mit Israel als
Nebenkriegsschauplatz an. Das zeigt intern, wo der Feind steht, und
der Welt, dass der Westen Mursi etwas bieten muss, damit er Israel in
Frieden lässt.

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