Mittelbayerische Zeitung: Tunis muss Vorbild bleiben

Von Martin Anton

Die Vorzeichen ähneln sich. Wieder ist es der Tod eines Einzelnen,
der Menschen in Tunesien dazu bringt, die Situation im Land
öffentlich anzuprangern. Die Demonstranten beklagen den Mord am
führenden Oppositionspolitiker Chokri Belaïd und fordern gleichzeitig
die Abdankung der Regierung. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass die
gemäßigt-islamische Regierungspartei Ennahda an dem Anschlag auf
Belaïd beteiligt war, wie es einige Demonstranten am Mittwoch
skandierten. Trotzdem trifft sie wohl eine Mitschuld am Tod des
säkularen Oppositionspolitikers. Denn dieser Akt politischer Gewalt –
und das es sich um einen politischen Anschlag handelt, ist in
Tunesien unbestritten – ist kein Einzelfall. Die islamistische Miliz
„Liga zum Schutz der Revolution“ hatte in den vergangenen Monaten
Büros und Sitzungen der Opposition attackiert und wird für den Tod
eines Politikers der Partei Nidaa Toundes im Oktober 2012
verantwortlich gemacht. Belaïd gehörte zu den Politikern, die am
lautesten vor dem Anstieg extremistischer Gewalt in Tunesien warnten
und der die Regierung mitverantwortlich dafür machte. Tatsächlich
trafen sich Vertreter der Regierungspartei mit Mitgliedern der
Milizen und verteidigten zum Teil ihr Vorgehen. Die „Liga zum Schutz
der Revolution“ und ihre Gewalt gegenüber Oppositionellen ist
Ausdruck eines grundsätzlichen Problems im Tunesien nach der Flucht
von Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Der Tod des prominenten
Aktivisten und Oppositionspolitikers Belaïd machte den Konflikt
zwischen den säkularen, liberalen Elementen der Revolution und den
Parteien, die religiös geprägt sind, auf besonders drastische Weise
sichtbar. Ähnlich wie in Ägypten fürchten viele Anhänger einer
Trennung von Staat und Religion um die demokratischen
Errungenschaften der Revolution. Im April soll die neue Verfassung
mit einjähriger Verspätung beschlossen werden. Frauengruppen hatten
gegen Formulierungen im aktuellen Entwurf protestiert, die ihrer
Meinung nach Frauen eine Gleichberechtigung mit Männern verweigere.
Zudem ist in einem Artikel vom Islam als Staatsreligion die Rede. Das
ist zwar beileibe nicht gleichbedeutend mit einer Anwendung der
Scharia. Säkulare Kräfte sehen darin dennoch eine Bedrohung der
Demokratie. Abgesehen von dem Streit zwischen Regierungsparteien und
Opposition gefährdet die wirtschaftliche Situation in Tunesien den
friedlichen Übergang in einen neuen Staat. Schon im Dezember 2011
waren es nicht zuletzt hohe Lebensmittelpreise, die die Menschen zum
Aufstand brachten. Heute sind viele Tunesier unzufrieden, weil sich
ihre Lage nicht entscheidend gebessert hat. Doch Wohlstand hängt mit
politischer Stabilität zusammen. Die aktuellen Machthaber in Tunis
sollten also so schnell wie möglich der gewaltsame Stimmung im Land
ein Ende setzen. Bei der heutigen Beisetzung von Belaïd könnte es
sonst wieder zu schweren Auseinandersetzungen und noch mehr Toten
kommen. Um eine Eskalation zu verhindern, müssen zunächst die
Oppositionsparteien, die nach dem Tod Belaïds die verfassungsgebende
Versammlung verlassen haben, wieder in den Prozess eingebunden
werden. Ministerpräsident Hamadi Jebali hat mit seinem Vorschlag für
eine Expertenregierung bereits den ersten Schritt getan. Jetzt muss
er nur noch seine Ennahda-Partei zur Zustimmung bewegen. Die muss
sich außerdem klar von der „Liga zum Schutz der Revolution“
distanzieren. Ein Bürgerkrieg in Tunesien wäre ein schlechtes Signal
für die Region, in der die Nachbarn Libyen und Ägypten mit ähnlichen
Problemen zu kämpfen haben.

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