BERLINER MORGENPOST: Noch immer fehlen Züge / Leitartikel von Thomas Fülling

Es ist schon bemerkenswert: Da fährt die Berliner
S-Bahn so unpünktlich wie lange nicht, und dennoch hat die
Bahn-Tochter so viele Kunden wie noch nie. Die zum Teil
altersschwachen rot-gelben Züge haben im vergangenen Jahr rund 395
Millionen Fahrgäste durch Berlin und Brandenburg befördert, fast zwei
Prozent mehr als vor Beginn der schweren Unternehmenskrise im Sommer
2009. In deren Folge wurden gravierende Missstände etwa bei der
Wartung der Züge offenbar. Einige Probleme sind bis heute nicht
ausgestanden: So konnte die S-Bahn im vergangenen Jahr in keinem
Monat die vertraglich vereinbarte Pünktlichkeitsquote von 96 Prozent
einhalten. Insgesamt sind 2012 mehr als 82.000 Zugfahrten ausgefallen
oder waren unpünktlich. Für die Betroffenen bedeuten diese nüchternen
Zahlen beinahe täglich Ärger über verpasste Anschlüsse und
unfreiwilliges Warten auf zugigen Bahnsteigen. Dass die Berliner in
so großer Zahl der S-Bahn dennoch die Treue halten, ist zum einen
Beweis für ihre sprichwörtliche Gelassenheit. Der Berliner ist
einiges gewohnt und hart im Nehmen. Ihn bringen weder ausgefallene
S-Bahn-Züge, noch BVG-Busse, die erst gar nicht und dann im Rudel an
ihm vorbeifahren, ernsthaft aus der Ruhe. Zum anderen sind die stetig
steigenden Fahrgastzahlen bei BVG und S-Bahn ein Beleg für die nach
wie vor hohe Grundqualität des Angebots. Nur wenige andere Metropolen
in der Welt haben ein so engmaschiges Netz an Bus- und
Bahnverbindungen, vor allem ein Verdienst unserer weitsichtigen
Vorfahren. Steigende Benzinpreise, löchrige Straßen und die stetige
Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung sorgen zudem dafür, dass immer
öfter selbst passionierte Autofahrer zu Bus und Bahn wechseln.
Aktuelle Zahlen belegen: In keinem anderen deutschen Bundesland haben
die Bewohner weniger Autos in ihrem Besitz als in Berlin. Das
bedeutet im Umkehrschluss: Immer mehr Menschen sind auf öffentliche
Verkehrsmittel zwingend angewiesen, egal, ob die nun pünktlich sind
oder nicht. Diese Zwangslage darf für die Verantwortlichen bei der
S-Bahn, aber auch bei der BVG kein Ruhekissen sein. Im Gegenteil.
Mehr Fahrgäste bedeuten mehr Verantwortung für deren Lebensqualität.
S-Bahn-Chef Peter Buchner spricht zu Recht von einem großen
Vertrauensbeweis, den die Fahrgäste seinem Unternehmen
entgegenbringen. Trotz mancher Verbesserungen etwa bei der Sauberkeit
der Züge und der Fahrgastinformation ist bei der Angebotsqualität der
S-Bahn noch immer deutlich Luft nach oben. Vor allem müssen die Züge
endlich wieder so pünktlich und zuverlässig fahren wie einst gewohnt.
Gefragt ist aber auch der Senat. Denn es muss dringend Ersatz her für
die störanfälligen älteren S-Bahn-Züge. Immerhin will der Senat die
dafür erforderliche S-Bahn-Ausschreibung vereinfachen. Doch es ist
absehbar, dass die neuen Züge nicht rechtzeitig 2017 geliefert werden
können. Werden jetzt keine verlässlichen Übergangslösungen gefunden,
droht den Berlinern eine neue, schwere S-Bahn-Krise. Viel Zeit dafür
bleibt nicht.

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