Schwäbische Zeitung: Interview mit Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg: „Mit Verlaub, das ist aufgeblasener Quark“

Sehr geehrte Kollegen,

die Schwäbische Zeitung (Ravensburg) veröffentlicht am Montag, 16.
September 2013, folgende Information,

frei zur Veröffentlichung bei Quellennennung bei Rückfragen
0751/2955 1500 (Christoph Plate)

Baden-Württenbergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne)
bezeichnet die Aufregung um Peer Steinbrück und seine obszöne Geste
als eine Skandalisierung von Unwichtigem. Die schlechten
Umfrageprognosen für die Grünen möchte er auch weiterhin ignorieren
und sich erst nach der Wahl um Analysen kümmern. Hendrik Groth und
Klaus Wieschemeyer sprachen mit dem abgeklärten Wahlkämpfer
Kretschmann am Rande einer Wahlveranstaltung in Wangen.

Horst Seehofer schwärmt von der Zusammenarbeit mit Ihnen. Wie
sehen Sie das?

Ich arbeite mit dem Kollegen Seehofer professionell zusammen. Wir
haben einige wichtige gemeinsame Interessen wie bei der Energiewende
oder dem Länderfinanzausgleich, auch wenn unsere Vorstellungen, wie
wir die Probleme lösen wollen, teilweise unterschiedlich ausfallen.
So haben wir uns der Klage von Bayern und Hessen gegen den
Länderfinanzausgleich nicht angeschlossen, weil wir sowieso
verhandeln müssen. Persönlich haben wir auch ein gutes Verhältnis.
Zwischen den Ländern ist eine kollegiale Zusammenarbeit üblich, und
gleichzeitig muss man in erster Linie das eigene Land im Auge haben –
und das haben wir beide.

Der Bundestagswahlkampf steht aktuell im Zeichen eines
ausgestreckten Mittelfingers. Was sagen Sie? Darf ein Kanzlerkandidat
so eine Geste machen?

Ich halte diese Debatte für abstrus. Es entsteht immer mehr der
Eindruck, wir hätten keine wirklichen Probleme im Land. Dem ist aber
nicht so. Ich bin besorgt darüber, dass solche Debatten hochgezogen
werden. Dafür habe ich keinerlei Verständnis. Hier gibt es ein
politisches Herummoralisieren zu einer Kleinigkeit, jemand stellt
sich in einer Fotoserie in eine Pose, mehr nicht. So eine
Skandalisierung von Unwichtigem haben wir schon beim
Bundespräsidenten Wulff erlebt. Nun nehmen sie allmählich Formen an,
deren Ende nicht absehbar ist.

Ist es nicht wichtig, wie ein Politiker auftritt?

Wir müssen uns immer fragen: Was ist gut für das Land? Was ist gut
für die Sache? Ist die Person dazu in der Lage? Denken Sie mal an die
US-Präsidenten: George W. Bush war ein geläuterter wiedererweckter
Christ, Bill Clinton hatte etwas mit seiner Praktikantin – sagt das
irgendetwas über die Qualität ihrer Außenpolitik aus? Offenkundig
nicht. Solche Debatten führen in die Irre.

Aber gerade den Grünen wird im Wahlkampf vorgeworfen, zu
moralisieren. Ihr Minister Herrmann will warmes Wasser beim
Händewaschen abdrehen, ihre Partei fordert den Veggie-Day…

Mit Verlaub, das ist aufgeblasener Quark.

Der Veggie-Day?

Nein, sondern das, was man daraus macht. Es war doch nur ein
Vorschlag. Ich bin als Katholik damit sozialisiert worden, dass man
am Freitag kein Fleisch isst. Solche Sachen gehören einfach zu
unserer Kultur. Worin liegt das Problem, in einer Kantine nur einmal
in der Woche nur Vegetarisches anzubieten? Wenn einer trotzdem Lust
auf Fleisch hat, kann er hinterher noch Wurst oder Döner essen. Das
sind vollkommen hochstilisierte Debatten, die den Eindruck erwecken,
wir hätten keine ernsten Probleme. Wir haben aber Probleme.

Wie den Staatshaushalt. Doch auch bei der Steuerpolitik scheinen
die Grünen besser zu wissen als die Steuerzahler, wie man ihr Geld
ausgeben sollte.

Steuererhöhungen müssen von der Politik vorgeschlagen und es muss
begründet werden, warum man sie nötig hat und wozu man sie verwendet.
Wir haben nach der Landtagswahl die Grunderwerbssteuer erhöht, um
damit den Ausbau der Kleinkindbetreuung zu finanzieren. Es gab
keinerlei Widerstand und volles Verständnis für diese Maßnahme, weil
wir gesagt haben, wozu wir die Mittel genau verwenden. Wir machen ja
auch Erfahrungen mit Bürgerhaushalten in Kommunen. Die Bürger machen
zwar Sparvorschläge, aber die Größenordnungen stimmen nur in den
wenigsten Fällen. Die Politik sagt, was sie will und warum, und
gerade bei Steuern sollte sie das ehrlich tun. Bei Wahlen entscheiden
die Bürgerinnen und Bürger, ob sie das gut finden oder nicht.

Wenn das Wahlergebnis am 22. September für die Grünen so ausfällt
wie derzeit prognostiziert, wird die Trittin–sche
Steuererhöhungspolitik in Ihrer Partei ab dem 23. September einen
schweren Stand haben…

Wahlanalysen macht man nach der Wahl. Dazu haben wir
professionelle Forschungsinstitute. Aus deren Untersuchungen kann man
anschließend die Konsequenzen ziehen. In der heißen Wahlkampfphase
kämpft man und macht keine Analysen. Darum heißt es Wahlkampf: Es
schadet nur, sich den Kopf zu zerbrechen, wenn man gerade mal
schlechte Umfragen hat.

Die Union in Baden-Württemberg wirft der Landesregierung vor, mit
der Reform der Lehrerausbildung das Gymnasium begraben zu wollen…

Das ist Wahlkampfgetöse. Wir modernisieren die Lehrerausbildung
für die Einführung des Zwei-Säulen-Modells, für eine evolutionäre
Entwicklung hin zu Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Selbst der
Handwerkstag und die Arbeitgeber haben der CDU empfohlen, sich aus
ihrem ideologischen Keller herauszubewegen. Das kann ich ihnen auch
nur raten. Schulen müssen sich verändern, aber niemand hat vor, das
Gymnasium abzuschaffen. Es ist eine bewährte Schulart. Wir haben
heute schon Übergangsquoten von teilweise 70 Prozent. Wer ist denn
bitteschön so dumm und schafft eine solch erfolgreiche Schule ab?

Die CDU fürchtet genau das.

Ich hoffe, die Union besinnt sich nach der Bundestagswahl. Ihre
eigene langjährige Kultusministerin Annette Schavan hat für ein
Zwei-Säulen-Modell geworben, konnte sich aber nicht durchsetzen. Es
ist der Trend in ganz Deutschland, nur die CDU in Baden-Württemberg
begreift nicht, dass der dramatische Schülerrückgang die
Schullandschaft umpflügt und wir nicht so weitermachen können wie
bisher. Wenn sie diese Tatsache anerkennt, kommen wir vielleicht zu
dem, was sich alle wünschen: Ein Schulfrieden, mit dem man sich alle
auf Grundlinien der Bildungspolitik einigt. Aber einigen kann man
sich nur mit nicht-fundamentalistischen Politikansätzen.

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