BERLINER MORGENPOST: Die Schonzeit ist endgültig vorbei – Leitartikel von Hajo Schumacher

Der Kollaps der Ober-Piratin Marina Weisband kurz
vor dem donnerstäglichen TV-Talk bei Maybrit Illner darf als Symptom
verstanden werden. Wie viele Menschen, die in einem unbequemeren als
dem westdeutschen System aufwuchs, verfügt die in der Ukraine
geborene Psychologie-Studentin über ein verlässliches
Koordinatensystem. Früher als andere ihrer Parteigefährten ahnte sie,
dass der Aufstieg eine Reihe ernster Probleme mit sich bringen würde.
Als eine der Ersten hat sich die politische Geschäftsführerin der
Piratenpartei deutlich gegen rechte Umtriebe gestellt. Kinder, die zu
schnell in die Höhe schießen, leiden an Wachstumsschmerzen, bei den
Piraten drückt die Pein im Quadrat. Das ist zunächst verständlich.
Kandidaten, Programme, Verfahren – alles muss gleichzeitig her, unter
verschärfter Beobachtung der Öffentlichkeit und mit einer
Mitgliederschaft, in der sich auch Gesindel und Hohlbirnen
herumtreiben. Aus dem früheren Freundeskreis ist eine
unübersichtliche Horde geworden. Dass diese Horde in so kurzer Zeit
hier und da sogar nach demokratischen Regeln funktioniert, das
verdient Respekt. Der positivste Aspekt am öffentlichen
Erwachsenwerden ist die entwaffnende Transparenz, mit der den
erstaunten Deutschen hier ein demokratisches Lehrstück präsentiert
wird. Was die Etablierten gern hinter dem Vorhang ausmachen, das
tragen die Piraten auf der Bühne vor. Wer allerdings in die
Parlamente strebt, kann nicht ewig Welpenschutz für sich reklamieren.
Mag ja uncool sein, aber es müssen klare Ansagen her: Wie haltet ihr
es mit Israel? Wie mit Deutschlands Nazi-Vergangenheit? Wie mit den
Rechtsradikalen? Diesen Fragen kann man nicht mit der klassischen
Piraten-Antwort „Keine Ahnung“ begegnen. Im Gegenteil: Die Piraten
müssen die Neonazis in den eigenen Reihen aus der Partei
ausschließen. Und der Vergleich der eigenen Wahlerfolge mit dem
Aufstieg der NSDAP bis 1933 ist gar unerträglich. Da geht ganz schön
was durcheinander in den Köpfen solcher Piraten, zumal dem eines
Berliner Vorzeige-Piraten. Die Piraten müssen wie jede andere Partei
Positionen beziehen. Haltung zeigen. Ob das basisdemokratische
Werkzeug der „liquid democracy“ dabei funktioniert, bleibt
abzuwarten. In letzten Fragen kann keine App die Haltung liefern. Die
oftmals bewährte bundesrepublikanische Demokratie hat sich aus guten
Gründen für die repräsentative Demokratie entschieden, also für das
bewusste Delegieren von Macht an Parteien und Parlamentarier. Die
Piraten sind angetreten, den Mythos von der Mitmach-Republik neu
dagegenzusetzen. Hübscher Versuch, aber wirklichkeitsfremd, vor
allem, wenn am Ende Schwachköpfen eine Bühne geboten wird. Blitzartig
muss sich die junge Partei entscheiden, wie schnell, wie stark sie
sich den Alten womöglich angleichen, ob sie Freakshow oder
demokratische Kraft sein will. Setzen sich, wie einst bei den Grünen,
die Realos durch oder die Mondsüchtigen? Und wie treu oder
trendversessen sind die Wähler, wenn die Kurven nach unten weisen?
Die Schonzeit für die Piraten ist nach dem Nazi-Vergleich endgültig
vorbei.

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