BERLINER MORGENPOST: Erster Schritt zum Atom-Konsens
Jochim Stoltenberg zum Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder

Zu welch einem Palaver ist das ausgeartet. Dabei
sind sich alle Beteiligten zumindest in zwei Kernpunkten einig, wenn
es um die Wende in der deutschen Energiepolitik geht: Ausstieg aus
der Atomenergie, als Lehre aus der nuklearen Katastrophe von
Fukushima. Und dennoch die sichere Stromversorgung Deutschlands als
größten und wichtigsten Industriestandort Europas. Doch täglich neue
Forderungen, Beteuerungen und gegenseitige Unterstellungen im Streit
darüber, welche konkreten Konsequenzen denn nun aus dem von vielen
für undenkbar erachteten Gau im fernen Japan zu ziehen seien, schaden
der Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit auf dem Weg zur Lösung des
Problems, das die Deutschen nun so tief bewegt. Ein Trauerspiel wird
da aufgeführt. Deshalb war der Energiegipfel, zu dem die Kanzlerin
gestern geladen hatte, überfällig. Diese erste Runde hat sogar
Annäherungen zwischen Angela Merkel und den 16 Ministerpräsidenten
gebracht. Die Verständigung auf einen Zeitplan, mit dem die
Energiewende parlamentarisch in Bundestag und Bundesrat eingeläutet
wird, ist ein wirklicher Fortschritt nach all dem verbalen Hickhack
der vergangenen Wochen. Doch für Euphorie besteht kein Grund. So hat
denn auch die Kanzlerin eingeräumt, dass vor der Verabschiedung der
neuen Rahmengesetze für eine gewandelte deutsche Energieversorgung
noch viele Einzelheiten offen seien. Und Nichtteilnehmer der Sitzung
– wie der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, und
SPD-Chef Sigmar Gabriel – bauten sogleich neue Hürden auf, kaum dass
sich die Runde im Kanzleramt ein schönes Wochenende gewünscht hatte.
Das lässt weiteren Streit befürchten. Ohne inhaltlichen Konsens aber
ist eine überzeugende Energiewende nicht möglich. Die mittlerweile
von allen beschworene neue Energiepolitik muss auf breitem
gesellschaftlichen Konsens basieren. Sie muss unumkehrbar werden.
Davon allerdings bleiben Parteien, Energieversorger, Umweltschützer
und die Vertreter relevanter gesellschaftlichen Gruppen weiter
ziemlich weit entfernt. Es sind ja noch nicht einmal die Fakten klar:
Wann können die Kernkraftwerke abgeschaltet werden, ohne unsere
Versorgung zu gefährden? Wie teuer wird der Umstieg auf erneuerbare
Energie und auf wen werden die Kosten umgelegt? Welche Auswirkungen
haben das Ende der Atomkraft und das Revival von Kohle- und
Gaskraftwerken als alternative Brückentechnologie für die
Klimaschutzziele? Wie kann gesellschaftliche Akzeptanz befördert
werden? Fragen über Fragen, auf die die bereits von der Kanzlerin
eingesetzten Kommissionen zur Klärung technischer und ethischer
Fragen allein keine alle überzeugenden Antworten geben wird. Wenn die
Koalition jetzt so sehr aufs Tempo drückt, um alle ins Boot zur
Atomwende zu holen, hat das auch einen politischen Hintergrund. Sie
will das leidige Thema Kernenergie, aus dem die Grünen so viel Kraft
schöpfen, bis zur nächsten Bundestagswahl vom Tisch haben. Dennoch
dürfen sich SPD und Grüne nicht einfach verweigern und auf Zeit
spielen. Dann nämlich würde ihre Forderung unglaubwürdig, alle
Atommeiler schnellst möglich abzuschalten.

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