BERLINER MORGENPOST: Merkel kämpft um Glaubwürdigkeit – Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Und plötzlich hat es Angela Merkel eilig. Möglichst
in der kommenden Woche sollen sich die Vorsitzenden der Zankparteien
zu einem Krisentreffen im Kanzleramt zusammensetzen, um zu retten,
was bis zur Bundestagswahl für die Bürgerlichen noch zu retten ist.
Schon lange hat Schwarz-Gelb in den Umfragen keine Mehrheit mehr.
Sind bislang vor allem die Liberalen abgeschmiert, nähert sich nach
dem Debakel in Nordrhein-Westfalen nun auch die Union, insbesondere
die CDU, bedrohlichen Turbulenzen. Es geht um die Glaubwürdigkeit. Um
die der Partei und damit natürlich zugleich um die der Vorsitzenden
und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ein gutes Jahr bleibt ihr nur
noch, um die Union einmal mehr zur stärksten Fraktion auch im
nächsten Bundestag zu machen und für sich selbst die Option auf eine
weitere Kanzlerschaft zu wahren. Das setzt voraus, die
innenpolitischen Brandherde endlich zu löschen und die existenzielle
europäische Krise zu entschärfen. Das niederschmetternde Ergebnis an
Rhein und Ruhr war ihr reichlich Warnung, nach langem Zusehen die
Zügel anzuziehen und Führungskraft zu zeigen. Frei nach dem Motto,
wenn Mutti böse ist, kann sie ganz hart werden, hat sie den
Wahlverlierer Norbert Röttgen auch aus ihrem Kabinett geschmissen.
Kein weiterer Akt der „Männer mordenden“ Kanzlerin, um sich einen
Konkurrenten, der Röttgen übrigens nie war, vom Hals zu halten,
sondern um die eigene Glaubwürdigkeit zu retten. Als Umweltminister
war Röttgen an vorderster Front verantwortlich für eine gelingende
Energiewende. Doch die Bilanz nach einem Jahr fällt eher bedrohlich
aus. Zudem hat es sich der Minister mit den meisten Mitspielern im
Energiepoker verdorben. Deshalb die Fortsetzung ohne ihn. Auf dass es
im nächsten Winter genug Strom gibt. Im Januar stehen in
Niedersachsen die nächsten Landtagswahlen an. Gehen dann die Lichter
aus, ist Merkels energiepolitische Glaubwürdigkeit dahin; und wohl
auch ihre Kanzlerschaft. Höchste Zeit auch, dass die Kanzlerin
glaubwürdige Führungsqualität beweist und mit Seehofer und Rösler
endlich die Dauerstreitthemen Betreuungsgeld, Mindestlohn und
Vorratsdatenspeicherung einvernehmlich abräumt. Dabei geht es in dem
Treffen nicht allein um die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin. Die
Koalition insgesamt macht sich lächerlich, wenn sie sich weiter
unfähig oder unwillig zum Kompromiss zeigt. Um an der europäischen
Front nicht einzubrechen, sucht die Kanzlerin Schulterschluss mit den
nun in Frankreich regierenden Sozialisten und ein bisschen mehr
Tuchfühlung auch zu deren oppositionellen deutschen Freunden. Davon
kündet ihre Bereitschaft, das Euro-Spardiktat durch Wachstumsanreize
erträglicher zu machen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat nach der
SPD-Niederlage in Nordrhein-Westfalen 2005 sein Heil in einer
vorgezogenen Bundestagswahl gesucht. Er hat verloren. Nach ihrer
Katastrophe sieben Jahre später sucht Angela Merkel ihre
Glaubwürdigkeit in einem Koalitionsgipfel zwischen sechs Augen zu
retten. Sie will, ja sie muss diese letzte Chance nutzen. Sie ist
keine Spielerin à la Schröder. Aber auch ihr Einsatz ist hoch.

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