Deutschland schickt sich an, bislang Einmaliges auf
der Welt zu wagen. Nichts anderes ist der jetzt auch gesetzgeberisch
auf den Weg gebrachte Ausstieg des ersten Industrielandes aus der
Kernenergie. Der Wagemut hat Risiken. Aber wenn die Parteien ehrlich
bleiben, wird das Risiko durch ihre grundsätzliche Einigkeit in der
Ausstiegsfrage gemindert. Dass sich politischer Widerstand nur noch
in rhetorischem Geplänkel artikuliert, machte die gestrige erste
parlamentarische Beratung des schwarz-gelben Energiepakets deutlich.
Dieser Konsens ist aus zwei Gründen unerlässlich: Erstens ist die
eilige Verabschiedung des umfänglichen Gesetzeswerks bis Anfang Juli
nur zu schaffen, wenn neue wahltaktische Streitereien ausbleiben.
Dann folgt der Praxistest. In dem müssen die Parteien weiter stehen,
wenn es vor Ort um die Umrüstung auf erneuerbare Energien samt neuer
Stromleitungen und um Gas- und Kohlekraftwerke geht. Mit
Bürgerprotesten – freundlich unterstützt mal von der einen, mal von
der anderen Partei – wie in Stuttgart, Gorleben oder auch am
künftigen Berliner Großflughafen – wird die Energiewende misslingen.
Das darf nicht passieren, auch dafür gibt es zwei Gründe. Der
entscheidende ist natürlich, dass der Industriestandort Deutschland
auch im nun ausgerufenen Ökostromzeitalter nur Zukunft hat, wenn
seine Stromversorgung sicher, die Stabilität der Netze gewährleistet
und die unvermeidliche Kostensteigerung für die im internationalen
Wettbewerb stehenden Unternehmen wie für die privaten Kunden
erträglich ist. Und zweitens würde nach den Erfahrungen mit Fukushima
ein gelungener deutscher Atomausstieg zum Signal auch für andere
Industrieländer. In Frankreich etwa regt sich längst viel mehr
Widerstand gegen die staatliche Atompolitik, als es Paris wahrhaben
will. Von Japan nach der Tsunami-Heimsuchung ganz zu schweigen. Der
Umstieg birgt also nicht nur Risiken. Er eröffnet neben sicherheits-
und umweltpolitischen auch exportwirtschaftliche Chancen.
Bundeskanzlerin Merkel hat recht, wenn sie von einer
„Herkulesaufgabe“ spricht. Sie begründet ihre Wende zur Wende mit
Fukushima. Die Erfahrung, dass nicht einmal ein Hochtechnologieland
wie Japan einen solchen Unfall beherrschen kann, habe sie umgestimmt.
Das klingt für die Wissenschaftlerin Angela Merkel glaubwürdiger als
für die Politikerin Angela Merkel. Die Mehrheit der Deutschen schaut
da sehr genau hin. Im jüngsten Deutschland-Trend von Infratest Dimap
hält zwar fast die Hälfte der Befragten den von der Regierung
gewählten Ausstieg bis 2022 für richtig. Allerdings führen deutlich
mehr als die Hälfte den Kurswechsel auf keine höhere Einsicht,
sondern auf die schnöde Sorge vor weiteren Wahlniederlagen zurück.
Von ihrem „Nein, Danke“ zum Atomstrom profitieren deshalb CDU und CSU
zumindest vorerst nicht. Sie verlieren sogar zwei Prozentpunkte. Die
Kanzlerin und mit ihr CDU und CSU können ihr Glaubwürdigkeitsproblem,
das tief in den eigenen Anhang reicht, nur zurückgewinnen, wenn sie
unbeirrt am Ausstiegsszenario festhalten und dieses erste praktische
Fortschritte zeitigt. Die Energiewende ist zu Angela Merkels
Schicksalsfrage geworden.
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