BERLINER MORGENPOST: Partei oder Schulhof 2.0 Hajo Schumacherüber die Ankunft der Piraten-Partei in der Realität

Keine Sorge, die Demokratie ist nicht in Gefahr,
auch wenn die Piraten 2013 den Bundestag entern, was neuen Umfragen
zufolge fraglich ist. Die Republik ist der neuen Partei schon jetzt
zu Dank verpflichtet. Denn auf großer Bühne tanzen die jungen Kräfte
eindrucksvoll vor, worum es im Leben und in der Politik geht: um
Geld, um Macht, um Mehrheiten, Ausdauer, den Einklang von Reden und
Handeln, um das komplexe Verhältnis von „Ich“ und „Wir“, um
respektvolles Miteinander und sogar um Spießiges wie Erwerbsarbeit.
Die empfahl der Bundesvorsitzende und Festangestellte Schlömer seinem
politischen Geschäftsführer Ponader, der sein Leben mit
gelegentlicher Projektarbeit finanziert – Realo gegen Fundi. Seit
zwei Kräfte den Bundesvorstand verließen, darf man die Partei in der
Realität begrüßen. Der Welpenschutz ist abgelaufen, offensichtlich
wird: Piraten sind keine Bessermenschen, wie sie eine Weile hofften,
sondern so wie die anderen Politiker nur noch öffentlicher und
ungeschickter und zudem geschlagen mit einem Anteil schlechtlauniger
Gewissenspolizisten, die anonym durchs Internet mobben. Man müsse
sich fragen, ob der erbarmungslose Umgang mit dem Führungspersonal
nicht dazu führe, dass keiner mehr den Job machen wolle, hieß es
einsichtig im Piratenmedium Twitter, das die Parteifreunde bevorzugt
nutzen, um sich in Bösartigkeiten gegeneinander zu übertreffen. Löst
Ponaders Rücktritt die Probleme? Keineswegs. Dann wird halt der
Nächste fertiggemacht. Piratenpartei, das ist Schulhof 2.0,
Klassenkeile inklusive. Und dieser Haufen muss jetzt mal ganz
kollektiv-liquide-transparent entscheiden, ob man als Sekte immer
recht haben oder als Partei gestalten will. Diese Pubertätsphase ist
normal. Bis ein gewisser Joseph Fischer in Hessen zum ersten
Turnschuhminister vereidigt worden war, hatte sich die Öko-Partei
auch bis aufs Blut gefetzt, mussten Mondsüchtige und Widerwärtige in
Reservate geschoben werden. Wer aber repräsentiert das Piratige als
Person halbwegs glaubwürdig und führungsbewusst? Ponader ist es
nicht, Schlömer vielleicht. Ganz sicher aber könnte es eine, die sich
derzeit aus dem Sabbatical heraus sehr genau überlegt, ob sie sich
den Job antun will: Marina Weisband. Wenn die kluge
Deutsch-Ukrainerin die Kühle und Härte besitzt, einfach abzuwarten,
bis der Haufen so zerstritten ist, dass er sich ihr willenlos zu
Füßen wirft, dann wird sie die erste richtige, allseits respektierte
Chefin der Partei sein. Erst wenn die Macht- und Personalfrage
geklärt ist, kann konkrete Politik folgen, so mit Inhalten und so:
Welcher Steuersatz für E-Books? Intervenieren in Mali?
Finanztransaktionssteuer? Griechenland raus? Oder EU um jeden Preis?
Jene widerlichen Widersprüche namens Tagesgeschäft eben, bei dem die
Piraten in den vier gekaperten Landesparlamenten, nun ja, auch noch
Luft nach oben haben. Was selbst Romantikern inzwischen klar sein
dürfte: Diese Demokratie ist ein unerbittliches Geschäft,
Wählerstimmen müssen gerechtfertigt, verteidigt und wiedergewonnen
werden. Die gute Nachricht für die Piraten: Alles ist offen. Das ist
leider auch die schlechte Nachricht.

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