BERLINER MORGENPOST: Regieren bedeutet Kompromisse – Leitartikel von Hajo Schumacher

In Zeiten durchinszenierter politischer
Aufführungen gerät bisweilen in Vergessenheit, was die Kernaufgabe
der Regierenden ist: Sie haben Lösungen zu finden, die möglichst
vielen Menschen gerecht werden. Mit Hauruck oder Basta ist nur selten
Großes zu bewegen. Regieren heißt Kompromisskunst: Jeder gibt, jeder
bekommt, aber keiner das Maximale. Ein Musterergebnis mühseligen
Verhandelns war der Atomausstieg, den der grüne Umweltminister Jürgen
Trittin und der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller vor über
zehn Jahren zustande gebracht haben. Zwischen Ökofundis, die die
Meiler am liebsten sofort abgeschaltet hätten, und der Industrie, die
die Kraftwerke gern bis in alle Ewigkeit hätten weiterlaufen lassen,
lag am Anfang nur eines: Unvereinbarkeit. Zwei Minister haben das
Kunststück fertiggebracht, einen verlässlichen Plan aufzustellen, der
niemanden glücklich gemacht hat. Aber alle Beteiligten konnten, wenn
auch zähneknirschend, mitgehen. Die Leistung beider Minister bestand
in ihrem virtuosen Doppelrollenspiel als Transformator und Stecker
zugleich: Trittin transformierte die Wut der Atomkraftgegner, Müller
den Zorn der Industrie, beide so weit, dass sie zumindest
gesprächsfähig waren, um sich millimeterweise aufeinanderzuzubewegen.
Die beiden Minister mochten sich zwar nicht sonderlich, respektierten
sich aber immerhin. So geriet der Atomausstieg trotz all seiner
Schwächen zu einem raren Erfolg systematischen politischen Handelns.
Dass Angela Merkel diesen sorgsam austarierten Beschluss von Rot-Grün
aufkündigte, um zunächst die Laufzeiten zu verlängern, nur um nach
Fukushima ruckartig den Stecker zu ziehen, gehört zu den größeren
Eseleien ihrer Amtszeit. Denn bei dem rot-grünen Ausstieg ging es
weniger um ein paar Monate Laufzeit hin oder her als vielmehr um den
Nachweis, dass es in Deutschland möglich ist, zwischen verfeindeten
Gruppen ein Minimum an Vertrauen zu schaffen. Die schwarz-gelbe
Regierung steht vor der gewaltigen Aufgabe, das Spiel von Müller und
Trittin zu wiederholen, unter ungleich schwierigeren Voraussetzungen,
bei einem Vertrauensstand von null. Trittin heißt jetzt Altmaier und
hat wenig Kredit im grünen Milieu, Rösler ist Müller, ohne dessen
Ansehen in der Industrie. Hinzu kommen: Gerangel um Milliarden an
Investitionen, Subventionen, Speichermangel und internationale
Verflechtungen. Obendrein droht die Bundestagswahl 2013. Keine Zeit,
dafür maximal komplex; und ausgerechnet an den Frischlingen Rösler
und Altmaier hängt nun maßgeblich das Schicksal der Kanzlerin.
Steigende Strompreise und Mieten, möglicherweise ein kälterer Winter
als der letzte – und schon bröseln die paar Prozente Vorsprung.
Sollten sich Minister und Landesfürsten weiterhin im Seehofer-Spiel
üben und schnellen medialen Aufruhr mit politischem Handeln
verwechseln, kann die Energiewende für Angela Merkel bedeuten, was
die Hartz-Gesetze für Gerhard Schröder waren: der Anfang vom Ende.
Kommt bis zur Wahl auch keine Lösung zustande, so könnten sich die
beiden Minister zumindest kompromissbereit zeigen. Das wäre ein
gewaltiger kultureller Fortschritt in dieser Koalition.

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