BERLINER MORGENPOST: Sicherheit schafft kluge Kinder – Leitartikel

Wieder so eine Studie. Man steht erst mal davor und
denkt: Hölle, Hölle, wo leben wir nur. Dann liest man weiter. Alles
nicht so schlimm. Im Gegenteil. Es läuft gar nicht so schlecht mit
der Gewaltprävention in Berlin. Sagt der Herr Professor Pfeiffer. Zu
erwarten gewesen wäre ja, dass es hier, in dieser
Dreieinhalbmillionenstadt, ein bisschen heftiger zur Sache geht als
anderswo in der Republik. In Wanne-Eickel. Oder in Sömmerda. Oder
sonst wo. Viele Menschen, viele Aggressionen. Wenig Platz, um sich
aus dem Weg zu gehen. Viel Stadt, viel Gewalt. Nun, auf der Grundlage
der Zahlen aus Niedersachsen, wissen wir – oder können zumindest
vermuten -, dass sich das Gewaltpotenzial unserer Jugendlichen
ziemlich gleichmäßig verteilt über unsere deutschen Lande. Am Problem
selbst allerdings ändert diese Feststellung sehr wenig. Wenn es wahr
und nicht nur Statistik ist, dass jeder sechste Jugendliche in
Deutschland schon Opfer von Gewalt geworden ist, dass jeder fünfte
gar angibt, schon einmal Gewalt ausgeübt zu haben, dann ist das eine
Wirklichkeit, die schlicht und ergreifend nicht länger zu tolerieren
ist. Dann wird es höchste Zeit, dass sich unsere Politiker – und
natürlich auch unsere Leitartikler – mit diesem eklatanten Mangel an
Respekt vor der Unversehrtheit und damit der Freiheit des Anderen
ebenso intensiv auseinandersetzen wie mit dem Mangel an Euros in
Griechenland. Eine gesellschaftliche Ordnung, in der Bedrohung und
Gewalt unter Jugendlichen zur Alltäglichkeit wird statt Ausnahme zu
bleiben, ist mindestens so gefährdet wie eine Gesellschaft, deren
Finanzsystem außer Rand und Band gerät. In beiden Fällen geht es um
die Zukunft der nachfolgenden Generationen. Eine Wissensgesellschaft
kann nicht prosperieren, wenn man kein Geld mehr hat für Bildung, für
Förderung, für Wissenschaft. Erst recht aber kann sie nicht
prosperieren in einem Klima der Angst, in einer Gesellschaft, in der
Drohgebärden und Gewalt Konjunktur haben, nicht Argumente. Der
Wissenschaftler Pfeiffer hat ein paar Gegenmittel genannt:
Gewaltprävention an den Schulen, Videoüberwachung an öffentlichen
Plätzen, im Nahverkehr. Man muss da hoffentlich nicht mehr lange
drüber diskutieren. Unversehrtheit geht eindeutig vor Datenschutz.
Polizeiliche Präsenz wäre mindestens ebenso wichtig, das sollte man
vielleicht berücksichtigen bei den Koalitionsverhandlungen zwischen
SPD und CDU. Man kann da noch richtig was tun für diese Stadt. Und
zwar als Voraussetzung für Prosperität und Wohlstand. Wichtiger aber
ist, dass im Alltag, in den Familien, in den Vereinen, an den
Schulen, im öffentlichen Raum wieder Respekt geübt wird, im wahrsten
Sinne des Wortes. Vor Eltern, vor Lehrern, vor Regeln, auch vor
demokratischen Instanzen, deren Autorität in den vergangenen
Jahrzehnten mit Verweis auf unsere allzu obrigkeitsgläubige
Vergangenheit mehr oder weniger systematisch untergraben worden ist.
Dabei muss kein Mensch zum Jasager werden. Im Gegenteil. Häufig
reicht ein Nein. Zum nächsten Brutalo-Video. Zur nächsten Pöbelei.
Zur nächsten Wodkaparty. Zum nächsten Stinkefinger. Und zum ersten
Schlag.

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