BERLINER MORGENPOST: Vergebliche Hoffnung auf die Wahrheit / Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Die Hoffnungen hielten sich in Grenzen – sie wurden
denn auch prompt enttäuscht. Was die frühere RAF-Terroristin Verena
Becker am Montag in ihrer ersten Aussage nach 88 schweigsamen
Verhandlungstagen zu Protokoll gab, hat zur Wahrheitsfindung leider
nichts beigetragen. Dass sie bekräftigte, bei der Ermordung des
Generalbundesanwalts Siegfried Buback vor nunmehr 35 Jahren keine
Rolle gespielt zu haben, verärgert weniger als ihr Schweigen über die
wahren Täter. Ersteres ist als Akt der Selbstverteidigung noch
nachvollziehbar. Hätte die frühere Terroristin über die Jahre zu
einem Rest von Reue und Menschlichkeit zurückgefunden, hätte sie
zumindest endlich zur Aufklärung der wahren Hintergründe des
hinterhältigen Anschlags beigetragen. Dass sie mehr weiß als am
Montag gesagt, davon ist angesichts ihrer einstigen Bedeutung in der
RAF auszugehen. Doch sie zog es vor, Bubacks Sohn mit dessen Frage
nach den wahren Mördern des Vaters und den Zweifeln an Justiz und
Sicherheitsbehörden wohl für immer allein zu lassen. Verena Becker
ist kalt geblieben wie eine Hundeschnauze. Was beim Vierbeiner als
Signal fürs Wohlfühlen gilt, charakterisiert einen Menschen als
gefühllos. Oder anders ausgedrückt: Der mafiaähnliche terroristische
Schwur, keinen Mitkämpfer zu verraten, steht für Becker über allem.
So ist zu befürchten, dass sich um die längst aufgelöste RAF und
damit um die bislang bedrohlichste Herausforderung unseres liberalen
Rechtsstaats weiter Legenden ranken. Um den Mord an Siegfried Buback
ebenso wie um den tödlichen Anschlag auf den einstigen Treuhandchef
Detlev Karsten Rohwedder, der bis heute auch nicht aufgeklärt wurde.
Der Rechtsstaat stößt immer dann an seine Grenzen, wenn ein Glied in
der Indizienkette fehlt und der vermeintliche Täter seinen letzten
Triumph ausspielt: Schweigen. Aussageverweigerung als letzte Waffe –
da zeichnet sich eine aktuelle Parallele ab. Weil die einzige
Überlebende der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
bislang eisern schweigt, bleiben Hintergründe und mögliche Netzwerke
der fremdenfeindlich motivierten Morde für die Sicherheitsbehörden
noch immer lückenhaft. Wie lange Beate Zschäpe das durchhält, ist
unklar. Ebenso, welche Bedeutung eine Aussageverweigerung irgendwann
in einem Prozess gegen sie haben würde. Nur eines scheint schon jetzt
klar: Auch ihre Richter dürften es schwer haben, wenn Beate Zschäpe
ihre letzte Waffe bis zum Ende einsetzt. Dies hätte im Fall der
Terrororganisation RAF und jetzt des NSU nur verhindert werden
können, wenn frühzeitige Aufklärung und Beweissicherung gelungen
wären. Was sich schon in den Anfangszeiten der RAF fatal auswirkte,
hat sich nun wiederholt: Wegen Zersplitterung und Eifersüchteleien
der Sicherheitsdienste in den Ländern sowie Konkurrenzgerangels mit
dem Bundeskriminalamt (BKA) hat der NSU jahrelang unentdeckt morden
können. Es wird höchste Zeit, dass das Bundeskriminalamt im Fall
bundesweiter Verbrechen wieder die unbestrittene Führungsrolle
bekommt. Die BKA-Mitarbeiter sind übrigens gar nicht so arrogant und
viel erfolgreicher, als es meist im ARD-„Tatort“ suggeriert wird.

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