BERLINER MORGENPOST: Vom Umbau einer Gesellschaft Leitartikel von Hajo Schumacherüber die Energiewende und die damit verbundenen Herausforderungen.

Ja, die steigenden Strompreise sind ein Ärgernis.
Nein, eine Hochspannungsleitung will keiner im Garten haben.
Offshore-Windparks laufen nicht wie erhofft. E-Mobility ist ein
Mythos, mal abgesehen von den seltsamen Fahrrädern, deren Akkus gern
mal kokeln. Ein Atommüll-Endlager ist auch nicht gefunden. Nichts als
Ärger mit der Energie. Jetzt mäkelt der britische „Economist“, Bibel
kalter Faktenmenschen, in seinem Deutschland-Heft auch noch, dass der
zauderliche Deutsche die Energiewende vergurkt. Natürlich. Wer sonst.

Mit Verlaub: Das ist Unsinn. Diese Energiewende ist ein
hochspannendes Projekt, das aufregendste gesamtgesellschaftliche
Experiment seit der Einheit und nur zu vergleichen mit der
Mondlandung, wie Kanzlerkandidat Peer Steinbrück meint. Mit
Planungspapieren und Wahlkampflogik und Parteienträgheit wäre diese
Wende nie zustande gekommen – schon das spricht dafür.

Wie die meisten spannenden Großentscheidungen ist auch diese
Energiewende aus einem Zufall entstanden, der Katastrophe von
Fukushima. Alle wussten, was sie nicht mehr wollten, aber niemand
hatte einen Plan für das Neue. In nur drei Monaten wurden damals 1000
Seiten Gesetzestext verfasst, nicht alle davon schlecht. Kein Wunder,
dass nicht sofort alles funktioniert: mehr Komplexität, mehr mächtige
Player, mehr widerstrebende Interessen, mehr ökonomische Wucht, mehr
internationales Durcheinander in knapper Zeit kann man sich kaum in
einem Knäuel vorstellen. Richtig machen ist fast unmöglich, wenig
falsch machen schon eine Leistung. Lehrgeld wird gezahlt, natürlich
vom Verbraucher. Das ist ärgerlich, aber alternativlos.

Zwei Jahre nach der Energiewende wird das ganze Ausmaß langsam
sichtbar. Es geht nicht um ein paar Windräder oder Solarzellen,
sondern um den Umbau einer Gesellschaft. 80 Prozent aller
Investitionen gehen aufs Land, Bauern werden Energiewirte.
Renditestarke Energiekonzerne schrumpfen, die industrielle Basis der
Deutschen steht wegen ihres permanenten Stromhungers zur Disposition.
Bis Gewerkschaften gemeinsam mit den Industrie-Bossen für bezahlbare
Energie kämpfen, dann muss schon was passiert sein. Und das Land hat
die nicht ganz leichte Frage zu beantworten, was denn sozial
gerechter sei: niedrige Strompreise, um die Industrie international
konkurrenzfähig zu halten. Oder gleiche Preise für alle? Die
Energiewende hat genug Wucht, wieder Ernst auf den
Abenteuerspielplatz zu bringen.

Inzwischen sind Steinbrück, Trittin und Altmaier einig, dass das
unendlich teure EEG reformiert gehört. Romantiker haben kapiert, dass
mit Solarparks in Mecklenburg der Standort kaum zu retten sein wird.
Skeptiker haben gelernt, dass regenerative Energien nicht
zwangsläufig zum Blackout führen. Wer, wenn nicht ein
Hochtechnologie- und Wissensland Deutschland in einer Phase relativen
Wohlstands, könnte diese Energiewende wuppen? In ein, zwei
Generationen werden wir unseren Enkeln erzählen, dass wir dabei waren
in jenen historischen Zeiten. Und dass man vieles hätte besser machen
können.

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