BERLINER MORGENPOST: Wir wankelmütigen Verbraucher – Leitartikel

Wir halten uns ja ganz gern die Augen zu, wenn es
gefährlich wird. Und gucken nicht so genau hin, was da Böses
geschieht rings um uns herum. Also essen wir leckeres Fleisch, wenden
uns aber lieber ab, wenn das liebe Vieh geschlachtet oder die Wurst
zusammengerührt wird im großen Trog. Hauptsache, es schmeckt. Wir
gehen auch in diesen Tagen weiter ins Restaurant und essen unser
Lieblingsgericht, ohne lange zu fragen, ob zum guten Geschmack
womöglich ein Dioxinei beigetragen hat. Beim Einkauf aber macht manch
einer schon einen großen Bogen um die Hühnertheke. Man kann ja nie
wissen, ob es vielleicht beißt. Im Ernst: Wir Verbraucher sind nicht
sehr konsequent. Wir erregen uns gern über diesen Kotkäse, jenen
Gammeldöner und die Nematode im Hering – aber nach ein paar Tagen ist
dann auch wieder gut. Ein ähnlich – vorsichtig ausgedrückt –
wankelmütiges Verhalten legen wir übrigens auch als Staatsbürger an
den Tag. Man beschwert sich ja gern und heftig über das Übermaß an
Verordnungen, Verboten und Kontrollen, man stößt sich empfindlich an
überbordender Bürokratie, aufwendigem Papierkram, obrigkeitlicher
Gängelei. Über das Zuviel an Staat oder gar Partei und Politik. An zu
hohen Kosten, die uns das Gemeinwesen aufbürdet. Es gibt Tage, an
denen können wir ziemlich gut leben mit unseren Forderungen nach
einem schlankeren Staat. Es gibt aber auch andere Tage. Die, an denen
wir gar nicht genug bekommen können von staatlicher Kontrolle,
schärferen Gesetzen, adleräugigen Beamten, die ganz genau hingucken,
wenn es irgendwo stinkt, wie jetzt gerade wieder in der deutschen
Nahrungsmittelwirtschaft. Die Tage, an denen etwas schiefgeht oder
schiefgegangen wird, je nachdem, was rauskommt beim jüngsten
Dioxinskandal. Peinliches Versehen? Kriminelle Energie? Dummer
Zufall? Es gibt so viele Möglichkeiten in einer hochkomplexen
Ernährungskette, die ja auch noch gut und günstig sein soll. Einen
Bio-Aufschlag für Hartz-IV-Einkommen und andere Geringverdiener hat
jedenfalls noch niemand vorgeschlagen, bezahlen mag den erst recht
keiner. Also sind, im schleswig-holsteinischen Uetersen, im
niedersächsischen Bösel und natürlich auch im Supermarkt von
Hellersdorf, dann doch wieder die Vorschriften zu lax, die Kontrollen
zu sporadisch, die Bürokratie nicht bürokratisch genug. Es gibt
Zeter, Mordio und jede Menge politische Vorstöße, wie man es besser,
auf jeden Fall aber anders machen könnte. Bis zum nächsten Skandal.
Aber das gibt sich, keine Frage. Die hektische Betriebsamkeit, in die
unsere Politiker zwei Tage nach Neujahr und ganze 14 Tage nach der
ersten Dioxinprobe gefallen sind, wird sich wieder legen. Und mit ein
bisschen Glück entscheiden sie sich dann am Ende doch gegen eine
weitere Vorschrift, gegen eine weitere Aufblähung der Bürokratie und
für die Verantwortung des Einzelnen. Des Verbrauchers, des
Unternehmers, des Bauern oder auch des Futterfetthändlers. Wenn wir
alle etwas genauer hinschauen – gerade im Umgang mit unserer Nahrung
– uns die Augen nicht zuhalten, dann wäre mehr gewonnen als mit jeder
Gesetzesverschärfung.

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