DER STANDARD-Kommentar „Fragwürdige Signalwirkung“ von Alexandra Föderl-Schmid

Jeremy Rifkin darf sich bestätigt fühlen: Als der
US-Autor 2006 in seinem Buch Der Europäische Traum enthusiastisch
die EU als Friedensprojekt pries, wurde er belächelt. Zumindest
wundern darf man sich über die Entscheidung, heuer den
Friedensnobelpreis an die Europäische Union zu verleihen. Nicht nur
Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat dies „überrascht“, wie
er freimütig sagte.
Wer begründet, dass die EU „entscheidend zur friedlichen Entwicklung
in Europa beigetragen“ habe, muss auch ihr Scheitern erwähnen: in den
1990er-Jahren auf dem Balkan, wo die Wunden des Krieges noch immer
sichtbar sind. Erst als die US-Amerikaner eingegriffen haben, wurde
dem Morden ein Ende gesetzt.
Es stimmt, dass immer weniger Menschen persönliche Erinnerungen an
den Zweiten Weltkrieg haben. Auch die deutsch-französische
Aussöhnung, die das Komitee in seiner Begründung hervorhob, ist ein
Meilenstein. Die beiden Länder waren in mehrere Kriege verwickelt.
Und viele können sich nicht mehr an die Szene im September 1984
erinnern, als der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der
französische Staatspräsident Fran?ois Mitterrand Hand in Hand in
Verdun der Toten der beiden Weltkriege gedachten. Weil auch der
Mauerfall 1989 und die Integration osteuropäischer Staaten in der
Begründung erwähnt wurden: Warum hat man nicht direkt Helmut Kohl
ausgezeichnet? Willy Brandt, dessen Kniefall vor dem Warschauer
Ghetto das Nachkriegseuropa prägte, erhielt den Preis 1971.
Die Wahl der EU ist diffus und nicht nachvollziehbar. Oder wollte man
den Preis als nicht eingestandenen Trost verstanden wissen, dass die
Europäer auf der Weltbühne eine zunehmend geringere Rolle spielen und
als Problemverursacher, wie derzeit bei der Tagung des
Internationalen Währungsfonds, am Pranger stehen? Diese Entscheidung
ist genauso zu hinterfragen wie die Zuerkennung des Preises 2009 an
US-Präsident Barack Obama, der bekanntlich das US-Gefangenenlager
Guantánamo nicht geschlossen hat.
Damit ist eine Chance vergeben worden, eine Person in ihrem Bemühen
zu unterstützen wie etwa die Iranerin Shirin Ebadi oder die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf einen Konflikt in einem
Land zu lenken. In zumindest sechs Fällen gab es nach der Zuerkennung
dieser symbolisch wichtigen Auszeichnung positive Entwicklungen: In
Argentinien wurde 1982 die Militärdiktatur überwunden, gegen die der
zwei Jahre zuvor ausgezeichnete Adolfo Pérez Esquivel angetreten ist.
Lech Walesa erhielt den Preis 1983, bevor sich die
Bürgerrechtsbewegungen in Polen durchsetzen konnten. In Südafrika
wurde die Rassentrennung zehn Jahre nach der Preisvergabe an Desmond
Tutu aufgehoben, der Bürgerkrieg in Guatemala vier Jahre nach der
Auszeichnung von Rigoberta Menchú beendet, und José Ramos-Hortas 1996
geehrter Kampf mündete 2002 in Osttimors Unabhängigkeit. Die jüngsten
Entwicklungen in Burma sind eine späte Genugtuung für die 1991
ausgezeichnete Freiheitskämpferin Aung San Suu Kyi. Ohne diesen Preis
wäre sie während ihres mehrjährigen Hausarrests wohl vergessen
worden.
Zusammen mit der Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Mo Yan, der
Chinas Staatsführung wie gerufen kommt und wogegen Regimekritiker
protestieren, ergibt sich eine fragwürdige Signalwirkung.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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