Mittelbayerische Zeitung: Hass auf allen Kanälen / Ob mit oder ohne „Mein Kampf“: Die deutsche Erinnerungspolitik hinkt der Zeit weit hinterher.

von Claudia Bockholt

Deutschland gedenkt der Opfer des Holocaust. Heute vor 67 Jahren
befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz, die
„Todesfabrik“. Ausgerechnet am Vortag des Gedenkens wollte ein
britischer Verleger den ideologischen Unterbau des Völkermords an die
Zeitungskioske bringen. Es war richtig, das zu verhindern. Doch die
Diskussion, die die geplante Veröffentlichung der verblendeten
Hassschrift entfacht hat, ist notwendig und überfällig. Das zeigen
die aktuellen Umfragen zu Antisemitismus und Aufklärung über die
NS-Verbrechen in Deutschland. Beklemmende Zahlen legte gerade der vom
Bundesinnenministerium eingesetzte unabhängige Expertenkreis in
seiner Studie „Antisemitismus in Deutschland“ vor. Jeder fünfte
Deutsche hegt zumindest latent die unseligen alten Ressentiments
gegenüber Juden. Eine am Dienstag veröffentlichte Umfrage des
Magazins Stern steigert das Unbehagen: Mehr als 20 Prozent der 18-
bis 29-Jährigen können mit „Auschwitz“ nichts anfangen, dem Wort, das
weltweit zum Synonym für den Genozid an den Juden geworden ist. Die
Zahlen belegen, was man angesichts der neuen Erkenntnisse über den
Rechtsradikalismus im Land schon ahnte: Die deutsche
Erinnerungspolitik erreicht ihre Ziele nicht. Auf Ignoranz allein ist
das nicht zurückzuführen. Eine Umfrage aus dem Jahr 2010 bestätigt,
dass sogar 69 Prozent der 14- bis 19-Jährigen mehr über die
Geschichte des Nationalsozialismus erfahren möchten. Die Bereitschaft
der Jungen zur Auseinandersetzung mit diesem belastenden Teil der
deutschen Geschichte ist also vorhanden. Doch der über Jahrzehnte
praktizierte pädagogische Ansatz, über Betroffenheit Ablehnung zu
erzeugen, ist nicht genug. Schüler, die in der KZ-Gedenkstätte mit
dem Handy spielen oder kichern, sind keine schlechten Menschen,
sondern womöglich mit der Situation überfordert. Die Expertenstudie
der Bundesregierung warnt sogar davor, Jugendlichen zu viel
abzuverlangen. Geht es um den Holocaust, würden oft überzogene
moralische Erwartungen an sie gestellt. Das könne in Frustration,
sogar in „Schuldabwehr-Antisemitismus“ münden. Fotos und Filme von
Leichenbergen, ausgemergelten Menschen und Massenerschießungen sind
omnipräsent. Fast täglich gibt es Dokumentationen über das Dritte
Reich im Fernsehen, seriöse und solche, die mit der Faszination des
Grauens spielen. Sie halten die Erinnerung an die Verbrechen der
Nazis wach, doch noch mehr davon brauchen wir nicht. Vielmehr ist es
Zeit, die neuen Glutnester des Antisemitismus auszutreten. Neben
Auschwitz gehören deshalb auch der Nahostkonflikt und islamistische
Propaganda auf den Lehrplan und müssen offen diskutiert werden. Ob
Lehrer Faksimiles des „Völkischen Beobachters“ oder eben auch Auszüge
aus „Mein Kampf“ im Unterricht verwenden können, ist nicht
wesentlich. Alles, was zur Entmystifizierung der Nazis beiträgt,
alles, was junge Menschen rassistische Propaganda – egal aus welcher
Richtung – als solche erkennen, einordnen und hoffentlich verurteilen
lässt, ist hilfreich. Die Veröffentlichung von „Mein Kampf“ ist nur
aufgeschoben. Ab 2015 ist sie nicht mehr zu verhindern, weil das
Urheberrecht erlischt. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte
arbeitet an einer historisch-kritischen Neuausgabe des Buches, das
immer noch viele für verboten halten. Ist es nicht, man darf es
besitzen und sogar mit den Originalausgaben handeln. Das zwischen
Pathos und Hass delirierende Pam-phlet ist also verfügbar. Wer ein
wenig sucht, findet es im Internet. Trotzdem: Es ist wichtig, dass
die kritische Aufarbeitung nicht einem profitorientierten Unternehmer
überlassen wird. Sie ist Aufgabe einer Erinnerungspolitik, die sich
nicht in Gedenkritualen erschöpft, sondern als Seismograph der
Gesellschaft versteht, einer Erinnerungskultur, die die Gegenwart
stets im Auge behält.

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