Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu Merkel/Gauck: „Frau Merkel, reden Sie!“

Auf der Titelseite des US-Magazins „Time“ ist
in der aktuellen Ausgabe eine Porträtaufnahme der Kanzlerin zu sehen,
in Schwarz-Weiß, sehr nah und wenig vorteilhaft. In großen Lettern
steht darüber, übersetzt: „Warum jeder es liebt, Angela Merkel zu
hassen.“ Und in kleinen Buchstaben steht darunter: „Und warum alle
unrecht haben.“ Damit ist schon vieles gesagt, was es über die
Kanzlerin in der Debatte über ihren Kurs in der Schuldenkrise zu
sagen gibt. Es fehlt nur noch der Zusatz: „Aber es wird Zeit, dass
sie diesen Kurs den Bürgern erklärt.“ Die Bundeskanzlerin mag in
Deutschland gleich hinter Joachim Gauck an der Spitze der
Beliebtheitsskala bei den Bürgern stehen. Im Ausland ist das anders.
In manchen Ländern wie in Griechenland ist sie ein Hassobjekt. Die
Zuchtmeisterin, die Ländern einen radikalen Sparkurs aufzwingt, ohne
den sie keinen Cent lockermacht. Auch das ist wenig schmeichelhaft.
Aber es hat funktioniert. Damit könnte bald Schluss sein. Das Blatt
hat sich gewendet. Italien und Spanien haben es geschafft, Merkel
Zugeständnisse abzutrotzen. Oder kurz: Sie haben Merkel erpresst. Und
sie hat notgedrungen mitgemacht. Nun ist auch in Deutschland der
Druck im Kessel bedrohlich angestiegen. Erst deutet der CSU-Chef
Horst Seehofer an, dass er die Koalition platzen lassen könnte –
Verzeihung: dass die Koalition ohne die Stimmen der CSU keine
Mehrheit hat, also platzen würde -, dann schreiben Top-Ökonomen unter
der Regie von Ifo-Chef Hans-Werner Sinn einen Brandbrief, in dem sie
die Menschen auffordern, die Euro-Politik der Bundeskanzlerin zu
boykottieren. Zwar haben sich als Reaktion Experten gemeldet, die den
Merkel-Kritikern das Verbreiten von Stammtischparolen vorwirft. Aber
die Debatte hat die Kanzlerin nun trotzdem auszustehen – und das
wenige Tage, bevor das Bundesverfassungsgericht sich mit den Klagen
gegen den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt
befasst. Und nun meldet sich auch der Bundespräsident mahnend zu
Wort. Dabei wäre es so einfach, diese Debatten zu entschärfen: indem
Merkel sich erklärt. Und das nicht nur im Bundestag. Der Kurs, den
die Bundesrepublik in der Krise fährt, ist bei aller Problematik vor
allem eines: hocheffizient. Er war es unter Schwarz-Rot bereits, er
ist es unter Schwarz-Gelb ebenso. Aber er beinhaltet eben auch
Risiken. Die müssten den Menschen deutlich vor Augen geführt werden –
ebenso wie die Risiken, die eine Pleite Griechenlands beinhaltet.
Oder das Auseinanderbrechen der Eurozone. Im günstigsten Fall
geschieht jetzt das, was Joachim Gauck hofft: dass die Klagen in
Karlsruhe Beiträge zu einer Debatte über den Regierungskurs werden.
Im günstigsten Fall gilt das auch für den sinnigen oder unsinnigen
Brandbrief der Wirtschaftsexperten. Im schlimmsten Fall aber bereitet
das alles den Boden für eine Entwicklung, wie sie bisher nur in den
Krisenländern zu sehen ist: dass die nächste Bundestagswahl eine
Abstimmung über die Europapolitik wird. Merkel tut daher gut daran,
jetzt wieder Verbündete zu suchen. Sie wird einen wichtigen in
Frankreichs neuem Präsidenten finden, selbst wenn François Hollande
noch einige Zeit den starken Mann spielen muss. Doch fast wichtiger
als der deutsch-französische Motor ist die Zustimmung der Menschen
zum Projekt Europa. Die bekommt die Kanzlerin aber nur, wenn sie
ihnen sagt, wohin die Reise geht, was sie bringt, aber auch, was sie
kostet. Und sie muss auch erwägen, die Bürger zu fragen, ob sie das
wollen. Vielleicht schon sehr bald. Autor: Christian Kucznierz

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