Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Grüne/Atomausstieg

Was haben Grünen-Parteitage nicht schon für
Überraschungen gesorgt. Für positive und negative. Der Tiefpunkt war
wohl erreicht, als ein frustrierter Grünen-Chaot 1999 in Bielefeld
den damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer mit einem
Farbbeutel bombardierte und dessen Trommelfell lädierte. Der
langjährige Grünen-Übervater erreichte seinerzeit, trotzdem oder erst
recht, die Zustimmung zum Nato-Einsatz gegen Serbien. Später erzwang
die Basis die Beibehaltung der Trennung von Partei-Amt und
Abgeordneten-Mandat. Oder auf dem Parteitag von Göttingen. 2007
entschieden die Delegierten gegen die Parteispitze gegen ein
ISAF-Mandat in Afghanistan. Bei Grünen-Kongressen ist oft Feuer
unterm Dach. Der Sonderparteitag der Anti-Atomkraft-Partei am
Wochenende in Berlin war vom Ergebnis her nicht spektakulär. Von der
Art und Weise jedoch, mit der das Votum für den Atom-Ausstieg 2022
zustande kam, wie gestritten und gerungen wurde, war es allemal
spannend. Die Öko-Partei hat anders, als etwa CDU, CSU, FDP oder SPD,
eine große gesellschaftliche Debatte auf die Bühne ihres Parteitages
geholt. Die anderen haben dagegen feige gekniffen. In der Union etwa
wird der Ausstieg „per Order di Mufti“ von Merkel und Seehofer
durchgesetzt, die offenbar schon immer gegen die Kernkraft waren.
Auch die Punkte in Sachen Glaubwürdigkeit gehen also ganz klar an die
streiterfahrenen und leidenschaftlichen Grünen. Freilich war bei den
einstigen Ökopaxen bald klar, dass sie der eigenen Führungsriege kein
Fiasko bescheren würden. Beim großen Ziel war man sich ohnehin einig.
Es ging nun nur noch darum, wie schnell die deutschen Meiler
abgeschalten werden können – 2017 oder 2022? – und wie schnell der
Übergang zu den erneuerbaren Energien zu schaffen sein werde. Bei
dieser Herkulesaufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte können die
Grünen zumindest die geistige Urheberschaft für sich reklamieren.
Nicht nur die Katastrophe von Fukushima, sondern auch die politischen
Erfolge der Grünen haben den 180-Grad-Schwenk der Bundesregierung in
der Energiepolitik verursacht und beschleunigt. Der schwarz-gelbe
Atom-Ausstieg, der am Donnerstag im Bundestag auch auf die Stimmen
der allermeisten Grünen zählen kann, ist sogar „grüner“ als der
frühere rot-grüne Ausstieg aus der Kernkraft von Schröder und
Fischer. Und einen Trost für die eigene Klientel, die noch schneller
aussteigen wollte, gab es auch: Sollten die Grünen ab 2013 im Bund
regieren, würden die Daumenschrauben angezogen. Will heißen, dann
wird den Stromkonzernen etwa über hohe Sicherheitsstandards der
Weiterbetrieb der Reaktoren noch schwerer gemacht. Dass die Grünen
leidenschaftlich streiten können, wusste man. Aber dass sie mit einer
solch deutlichen Mehrheit den Vorgaben der Parteispitze folgten, war
zumindest eine kleine Überraschung. Die 2013 im Bund winkende
Regierungsbeteiligung hat die Grünen pragmatischer und realistischer
gemacht. Sie haben den Stresstest bestanden. Die Grünen sind drauf
und dran, den einstigen Volksparteien den Rang abzulaufen. Das
Parteitags-Votum war aber auch als Angebot an die SPD, wie an die
Union gleichermaßen zu verstehen. Mit beiden könnten die Grünen
regieren. Fragt sich dann nur, ob als Koch oder als Kellner. Und
vielleicht werden sie sogar mit einem eigenen Kanzlerkandidaten
antreten. Mit dem Parteilinken Jürgen Trittin – der allerdings
gehörte unter Gerhard Schröder bereits schon einmal zur
Kellner-Riege. Das wird er nicht noch einmal wollen.

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