Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar zu Philipp Rösler und der Aufbruch der FDP
Das menschliche Maß
ALEXANDRA JACOBSON, ROSTOCK

Rostock markiert für die Liberalen den lang
ersehnten Aufbruch. Der neue Chef Philipp Rösler hat in der
Darstellung der FDP das menschliche Maß wieder gefunden. Kein
dröhnendes Pathos mehr, kein Stakkato. Stattdessen ein beiläufiger
Plauderton. Rösler erzählt von seiner Schwiegermutter Ruth und der
93-jährigen Oma Klärchen. Er spricht von der Not alleinerziehender
Mütter, die keine Kitas mit passender Öffnungszeit finden. Manch
einer mag das banal finden. Es ist aber außergewöhnlich, weil der
FDP-Spitze solche Themen früher viel zu klein und unbedeutend waren.
Aber die Frage der Freiheit buchstabiert sich eben nicht nur in
Euronoten. Die Begrenzung auf die Steuersenkung war ein selbst
gewähltes Gefängnis. Bei der Freiheit geht es aber um mehr, um die
Chancen zur Selbstverwirklichung. Und um die Frage, welche Kräfte
diese Chancen verhindern. Rösler hat seine Partei aufgefordert, das
Themenspektrum zu erweitern und die Alltagssorgen der Menschen ernst
zu nehmen. Das könnte ein Erfolgskonzept sein. Dass Christian Lindner
gleich einen Vorstoß wagt und statt Elterngeld mehr Mittel für die
Kita-Betreuung ausgeben will, ist kühn aber erfrischend. Endlich
äußert die FDP wieder auf anderen Feldern reformerische Ideen als nur
in der Steuerfrage. Ja, man darf mit diesem Rostocker Aufbruch
zufrieden sein. Auch in der Frage der Eurorettung hat die FDP
widerstanden. Sie ist nicht nach rechts gerutscht. Und doch sei vor
Euphorie gewarnt. Bis die Menschen der FDP wieder zuhören wollen,
wird es lange dauern. Zu steil war der Absturz, zu groß der Zweifel,
ob die FDP noch notwendig ist. Den Platz als dritte Kraft hat die
Partei verloren. Und bei den nächsten drei Landtagswahlen gibt es
keinen Blumentopf zu gewinnen. Vor Ungeduld sei also gewarnt. Auch
ein Philipp Rösler kann keine Wunder vollbringen.

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