Neues Deutschland: zur Debatte um die AKW im Lichte der Ereignisse in Japan

Röttgens Argument in den ARD-Tagesthemen am
Samstagabend, die Regierung wolle einer Grundsatzdebatte nicht
ausweichen, wenn man »nicht mehr in einer akuten
Gefahrenabwehrsituation ist«, bedeutet übersetzt gerade so viel: Gebt
uns Zeit, bis die Bilder der Explosionswolke über Fukushima und die
Sorge vor der wieder mal sichtbar gewordenen Gefahr der Atomenergie
sich verflüchtigt haben. Nicht anders lauteten die Parolen 1979, als
eine komplette Kernschmelze im US-amerikanischen Atomkraftwerk von
Harrisberg gerade noch abgewendet werden konnte, nicht anders
lauteten sie nach der Reaktorexplosion 1986 im sowjetischen AKW
Tschernobyl. Wer die Atomenergie angesichts dieser Belege für
grundsätzlich unbeherrschbar erklärte und einen schnellstmöglichen
Ausstieg aus derselben verlangte, wurde nach wenigen Wochen, in denen
die Politik ihre Betroffenheit veräußert hatte, wieder als
Fortschrittsfeind abgestempelt. Bei Tschernobyl und Fukushima,
zuvor in Harrisburg, Sellafield und Tscheljabinsk, in denen sich
bislang nukleare Unfälle der höchsten Kategorien 5 bis 7 abspielten,
offenbarte sich das, was die Betreiber das »Restrisiko« nennen. Es
ist dies jenes Risiko, das über den sogenannten »Größten
Anzunehmenden Unfall« (GAU) hinausgeht, den die Sicherheitsstandards
eines AKW beherrschen sollen, ohne dass es zur Kernschmelze kommt
oder eine bedeutende Menge an radioaktivem Material nach außen tritt.
Mal war es ein unvorhergesehener Pumpenausfall, mal war es eine
fehlgelaufene Testabschaltung, jetzt waren es eine nicht
einkalkulierte massive Erschütterung und ein kompletter Stromausfall,
die dieses »Restrisiko« zum realen Ernstfall machten. Natürlich ist
in Hessen oder Nordrhein-Westfalen nicht mit einem vergleichbar
schweren Erdbeben oder einem Tsunami zu rechnen – »nach menschlichem
Ermessen« nicht, wie die Kanzlerin weiß. Aber weiß sie und wissen die
anderen, die uns die Atomanlagen ins Land pflasterten, ihre Laufzeit
verlängerten und ihre strahlende Hinterlassenschaft in rostenden
Fässern in den Salzbergwerken der Asse und Gorlebens unterpflügen
oder oberirdisch in den Hallen des stillgelegten AKW Lubmin lagern,
wo das menschliche Ermessen in unserem Land sein Restrisiko hat?
 Tatsächlich gibt es – neben der helfenden Solidarität mit den
Erdbebenopfern in Japan – eine ganz und gar nicht unwichtige
Konsequenz: alle AKW schnellstmöglich kontrolliert stillzulegen,
zügig andere, regenerative Energieformen zu erschließen und unsere
Lebensgewohnheiten auf Energiesparsamkeit umzustellen. Wenn die
Politik dies verweigert, dann gibt es nur eins: die Abschaltung aller
Atomparteien – beginnend am kommenden Wochenende bei der Landtagswahl
in Sachsen-Anhalt und am übernächsten Wochenende in Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz. Das ist Innenpolitik? Aber natürlich: Mit dem
weltweiten Ausstieg aus der Atomenergie können die Japaner nur in
Japan, die Russen nur in Russland, die Franzosen nur in Frankreich
und die Deutschen nur – ja, wo? – in Deutschland beginnen.

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