Rheinische Post: Die CDU ist fast nur noch Merkel

Ein Kommentar von Sven Gösmann:

Angela Merkel hat neun Ehrendoktortitel, wurde fünfmal zur
mächtigsten Frau der Welt gekürt und ist Ehrenmitglied von Energie
Cottbus. Man könnte meinen, sie habe alles erreicht. Doch seit dieser
Woche ist die Kanzlerin auch die „Diversity-Persönlichkeit des
Jahres“. In seiner Laudatio verstieg sich ein Juror dazu, den
„Migrationshintergrund“ Merkels zu loben, weil diese in der DDR groß
geworden sei, also als Frau, Ostdeutsche und Seiteneinsteigerin in
der CDU die fleischgewordene Vielfalt sei. Ihr Terminkalender erwies
der Kanzlerin die Gnade, sich das nicht anhören zu müssen. Sie war
lediglich per Videobotschaft vom Leipziger Parteitag zugeschaltet.
Allerdings war nur die Laudatio schräg, der Preis durchaus verdient.
Tatsächlich verkörpert Merkel eine Vielfalt der Positionen, die von
Kritikern als Fehlen eines Kompasses analysiert wird. Das stimmt
allerdings nur, wenn man die Parteipolitik noch aus den
Schützengräben von gestern betrachtet. Merkel ist der Helmut
Schmidt–schen Doktrin „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ näher
gekommen als Schmidts männliche Nachfolger. Kohl: ein visionärer
Europäer. Schröder: ein Aufsteiger, der den Sozialstaat zukunftsfest
schleifte. Merkel dagegen ist pragmatisch wie Schmidt. Sie vermeidet
Festlegungen, sucht Mehrheiten zu erfassen, Trends zu erspüren, setzt
sie aber nicht. Es ist dieser positive Opportunismus, der jeder
Partei, die Wahlen gewinnen will, innewohnen muss. Die Friedhöfe der
Politik dagegen sind voller Menschen, die immer recht behielten.
Wichtigste Grundlage der Vermerkelung der Union ist, dass sie keine
Programmpartei wie die SPD ist. Dahinter liegt der immer noch
prägende Einfluss des rheinischen Kapitalismus auf die Union. Die
Partei ahnt, bestenfalls weiß sie es immer noch, dass die
Wirklichkeit Dogmen rund schleift wie der Rhein die Steine. Ein
Musterbeispiel dieses Politikansatzes, den die Norddeutsche Merkel
antizipiert wie kaum ein Zweiter in ihrer Partei, ist der
Mindestlohn-Kompromiss. Aus der „Lohnuntergrenze“ kann sich jeder
herauslesen, was er möchte. Auf der Leipziger Wallstatt gab es nur
Sieger, keine Verlierer. Merkels CDU gefährdet sich deshalb nicht
durch die vermeintliche Sozialdemokratisierung, die vor allem
Anpassung an die Realitäten ist. Vielmehr krankt die Partei daran,
dass ihre Vorsitzende vielfältig ist, ihr Umfeld aber immer weniger.
Merkel hat es nicht zugelassen, vielleicht aber auch nur nicht
vermocht, neben sich „Diversity“ entstehen zu lassen. Einzig
NRW-Landeschef Norbert Röttgen denkt nach vorn und eigenständig.
Vorzeigekonservative, identitätsstiftende Wirtschaftsköpfe?
Fehlanzeige. Dieser Fachkräftemangel in der CDU wird die Macht
Merkels irgendwann aushöhlen. So lange ist sie allein der Garant der
Macht für die Union. Auch deshalb gibt es keine echte Opposition in
der Partei gegen die Führungsfrau. Die CDU 2011 besteht fast nur noch
aus Merkel.

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