Südwest Presse: LEITARTIKEL · BUNDESPRÄSIDENT

Angekommen

Seit Joachim Gauck vor 20 Monaten gegen Christian Wulff
kandidierte und als „Bundespräsident der Herzen“ eine ehrenvolle
Niederlage gegen den inzwischen gescheiterten CDU-Politiker zu
ertragen hatte, war der ehemalige Bürgerrechtler aus Rostock Schatten
und Verheißung zugleich. Für Wulff war Gauck der Schatten, der auf
einer mindestens am Ende unseligen Präsidentschaft lag, für die
Bürger die Verheißung auf ein Staatsoberhaupt, das dem Amt durch
persönliche Integrität und öffentliches Ansehen die erwünschte
Stetigkeit und Popularität verleiht. Nun ist Gauck dort angekommen,
wohin er nach Meinung einer überwältigenden Mehrheit in der
Bevölkerung längst gehörte. Ob dieser große Rückhalt bei den Menschen
und in den Parteien, die ihn nominiert haben, für den neuen
Präsidenten ein Bonus oder eine Last ist, muss sich noch zeigen. Auf
Gauck ruhen Hoffnungen, die schier erdrückend erscheinen. Er soll –
rhetorisch, moralisch und thematisch – möglichst alles besser machen
als seine beiden Vorgänger, obwohl Horst Köhler und Christian Wulff
durchaus auch ihre Verdienste hatten. Er soll den Erwartungen der
Politik und seiner eigenen Beschreibung gerecht werden – also
zugleich links, liberal und konservativ sein. Vor allem aber soll er,
so Gott will und ihm Gesundheit beschieden ist, fünf Jahre lang
durchhalten. Das freilich hängt nicht allein von Joachim Gauck selbst
ab. Schon vor seiner Wahl hat der politische Quereinsteiger zu spüren
bekommen, was Köhler und mehr noch Wulff so leidvoll erfahren
mussten, dass nämlich in der Mediendemokratie eine Menge
Standhaftigkeit und Nehmerqualitäten nötig sind, um sich im Sturm
häufig maßloser Kritik oder ungerechtfertigter Anfeindung zu
behaupten. Gewiss lassen sich Autorität und Respekt in einer ebenso
transparenten wie komplexen Gesellschaft nicht verordnen. Aber ein
Gemeinwesen, in dem aus Prinzip oder auf der Jagd nach Quoten
Misstrauen in die gewählten Repräsentanten geschürt wird, kann auf
Dauer nicht gedeihen. Diese Lehre aus den vorzeitigen Abgängen der
beiden letzten Präsidenten sollten alle Beteiligten wohl ziehen.
Joachim Gauck, der einen großen Teil seines schon langen Lebens in
Diktaturen zubringen musste, hat die Freiheit zu seinem zentralen
Leitmotiv erkoren. Er wird daher nichts gegen die Freiheit
Andersdenkender oder gegen die Meinungsfreiheit schlechthin haben. So
lange Einwände gegenüber seinen Positionen nachvollziehbar formuliert
und verantwortungsbewusst vertreten werden, sollte auch Gauck mit
Kritik leben können. Dann aber darf der Präsident seinerseits auch
jenes Maß an Geduld und Fairness bei Bürgern und Medien einfordern,
das er wenigstens in den ersten Monaten im Schloss Bellevue sicher
braucht, um seine Rolle endgültig zu finden und aus ersten Irrtümern
zu lernen. Dass sich Gauck, wie bisweilen befürchtet, beim Blick auf
Deutschland und die Welt einseitig oder rückwärtsgewandt nur auf
seine DDR-Erfahrungen stützt, wird seinem Verständnis von Demokratie
und Gemeinwohl nicht gerecht. „Aus dem Glück der Befreiung“, so hat
der Präsident gleich nach seiner Wahl erklärt, „erwächst die Pflicht
der Verantwortung.“ Gauck ist also keineswegs blind für aktuelle
Themen wie Integration, Gerechtigkeit und Teilhabe. Im Gegenteil:
Sein leidenschaftliches Plädoyer für die aktive Mitgestaltung von
Staat und Gesellschaft durch alle Bürger ist nicht zuletzt ein erster
Schritt auf dem Weg zur Wiederannäherung von Politik und
Wählerschaft. Nicht durch pastorales Pathos, sondern durch lebensnahe
Praxis – so wünschen wir es uns vom neuen Bundespräsidenten.

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Südwest Presse
Lothar Tolks
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